Oberfläche und Performanz
Untersuchungen zur Sprache als dynamischer Gestalt

Der Band dokumentiert die Beiträge zu einer Tagung, die bereits im Jahr 2005 auf dem Monte Verità (Ascona/Schweiz) stattgefunden hat. Mit ihm wird ein theoretisches Anliegen zum Ausdruck gebracht, und zwar das einer förmlichen Rehabilitierung zweier lange randständig behandelter Termini. Die Herausgeber diagnostizieren einen Moment in der Wissenschaftsgeschichte, in dem die linguistischen 'Kernkonzepte' (S. V) selbst zur Disposition stünden und die Bereitschaft innerhalb der Forschergemeinschaft spürbar sei, die eigenen Grundkategorien zu überdenken, und zwar im Sinne einer 'Dynamisierung' wie auch kritischen Überprüfung derselben. Als positive Leitidee wird dazu das Konzept von 'Sprache als dynamischer Gestalt' (S. V.) grundgelegt, eine Formulierung, die an Helmuth Feilkes oberflächenorientierter Theorie der sozialen Prägung sprachlicher Ausdrücke angelehnt ist (vgl. Feilke 1996). Demgemäß wird mit dem Ausdruck 'Oberfläche' im Sinne von 'Ausdrucksgestalt, die Inhalt und Form integriert' (S. 7) die soziokommunikative Typik von Sprache ins Zentrum gerückt. Der zweite Terminus der titelgebenden Paarformel führt dagegen die systematischen Bedingungen von Sprache als Handlung ein und rührt daher eher an das kulturalistische Programm Angelika Linkes. Der Band gliedert sich in vier Hauptteile und einen Epilog. Die Hauptteile sind folgendermaßen überschrieben: 'Oberfläche und Performanz: Verortungen', 'Ordnung', 'Verständigung' und 'Medium'. Im ersten Teil, dessen Titel selbsterklärend ist, wird von den Herausgebern sowie Konrad Ehlich und Sybille Krämer eine Grundlegung des Themas vorgenommen, indem vor allem auf die begrifflichen und metaphorischen Implikationen sowie auf die Ideengeschichte der titelgebenden Termini 'Oberfläche und Performanz' eingegangen wird.
Der mit 'Ordnung' überschriebene Teil enthält zwei im engeren Sinne sprachtheoretische Beiträge von Wolfgang Raible sowie von Christian Stetter, der für einen nominalistischen Typenbegriff in der Linguistik und damit für eine performanzorientierte Kategorienbildung plädiert. Sprachliche Typen werden demgemäß als 'Mengen einander ähnlicher Kopien' (S. 74) modelliert. Hier kommt Stetter in einem anderen Begründungszusammenhang zu einer Anschauung, die international von der 'radical construction grammar' (Croft 2001) prominent gemacht wurde. Anders als dort werden bei Stetter aber deutlich die Implikationen herausgestellt, die ein nominalistischer Typenbegriff erstens für die Berücksichtigung der medialen Ausdifferenzierung der Kommunikation und zweitens für das Verhältnis von Synchronie und Diachronie hat: Stetter kommt mittels einer formalen Herleitung seiner Position zu dem Ergebnis, dass sprachliche Typen nur in der Zeit und im Zustand ständiger Veränderung zu denken seien, 'denn das Ziehen einer Kopie ist ja ein zeitlicher Vorgang' (S. 74). Der synchronische Blick auf die Sprache wird zwar anerkannt, aber als 'gleichsam infinitesimaler Grenzfall des diachronischen Grundzustandes der Sprache' (S. 75) in seine Grenzen gewiesen. Daneben enthält der Teil Aufsätze, die theoretische Grundlegungen (Ágel) oder Neuorientierungen (Primus) einzelner Forschungszusammenhänge dokumentieren, sowie Kategorisierungsangebote für Performanzphänomene wie das deutsche Interpunktionssystem (Bredel) und die Syntax mittelniederdeutscher Rechtsverordnungen im späten Mittelalter (Tophinke).
Der mit dem Etikett 'Verständigung' überschriebene Teil enthält zwei Beiträge zur diskurstheoretischen Re-Lektüre de Saussures (Fehr, Jäger), zwei zum Spracherwerb (Knobloch, Burger) sowie weitere Beiträge, die sich lose in den Begründungszusammenhang der 'Verständigung' fügen: Heiko Hausendorf betont die Unhintergehbarkeit einer medial differenzierten Sprachbeschreibung im pragmatischen Paradigma und diskutiert dann als 'pragmatisches Minimum' der Kommunikation (so der Titel des Beitrags) drei Grundeigenschaften des Sprechens, die sich aus dem Verständigungsaspekt von Sprache ergeben: 'Materialität', 'Sequenzialität' und 'Medialität'. Joachim Scharloth unternimmt, sozusagen als Re-Import, eine linguistische Fundierung des kulturwissenschaftlichen Performanzbegriffs, Christine Gohl dokumentiert eine interaktionale Beschreibung deutscher Konnektoren und Herbert Ernst Wiegand präsentiert eine theoretische Grundlegung des intuitiven Alltagskonzeptes 'wörtliche Bedeutung' vor dem Hintergrund der Gebrauchstheorie der Bedeutung.
Während im Verständigungsteil der Performanzbegriff im Vordergrund stand, widmen sich die Beiträge unter der Überschrift 'Medium' dem Begriff der 'Oberfläche' und seinen kommunikationstheoretischen Implikationen. Das geschieht mit Bezug auf verschiedene Anwendungsfelder: Textlinguistik (Fix), Textsortengeschichte der Psychiatrie (Schuster), Text-Bild-Forschung (Holly, Steinseifer) und Textdesign- und Typographieforschung (Antos, Spitzmüller).
Als Epilog enthält der Band den letzten Aufsatz im Lebenswerk von Fritz Hermanns, der den Titel 'Verstehensdynamik' trägt und der neben plastischen Einsichten in die performative Praxis des Verstehens von Literatur auch ein unersetzliches Dokument seiner Arbeitsweise ist. Dem Rezensenten ist der hier verschriftlichte Vortrag gut bekannt: Fritz Hermanns hielt ihn in meinem Heidelberger Proseminar und versetzte dabei mit seiner unnachahmlichen Art die Studierenden zuerst in Erstaunen, dann mehr und mehr in Begeisterung. Es war meines Wissens sein letzter öffentlicher Auftritt in der akademischen Welt. Seinem Andenken sei diese Besprechung gewidmet.
Durch den erfolgreichen Versuch der Herausgeber, Beiträgerinnen und Beiträger aus möglichst vielen Bereichen der germanistischen Linguistik zusammenzuführen, entsteht ein Prisma an Forschungsperspektiven, das in seiner Gesamtheit ein recht klares Bild davon ergibt, in welche Richtung sich die linguistische Erforschung des Deutschen bewegt. Dass sie sich in all ihren Bereichen und Forschungsparadigmen bewegt, ist nicht nur den Beiträgen deutlich zu entnehmen, sondern ergibt sich indirekt auch aus einem Gesamteindruck der Lektüre: Schon fünf Jahre nach Abhalten der Tagung wirkt es doch recht exotisch, dass in einem breit angelegten Überblicksband zum Thema 'Oberfläche und Performanz' kein einziger korpuslinguistischer Beitrag zu Wort kommt. Die bei dem Ansatz des Bandes unvermeidliche Heterogenität der Begriffsbestimmungen und Positionen erscheint dagegen nicht als Makel, sondern vielmehr als Gewinn für die Lektüre. Lange ist keine so umfassende Bestandsaufnahme der Germanistik unter einer insgesamt tragfähigen begrifflichen Klammer vorgelegt worden.

Zitierte Literatur:

Croft, William (2001): Radical construction grammar. Syntactic theory in typological perspective. Oxford u. a: Oxford University Press.
Feilke, Helmuth (1996): Sprache als soziale Gestalt. Frankfurt am Main: Suhrkamp.