Der Fremde als Nachbar
Polnische Positionen zur jüdischen Präsenz seit 1800

Der auf Initiative des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt entstandene Sammelband beabsichtigt, überblicksartig einige grundlegende Texte der letzten 200 Jahre zu polnischen Reaktionen auf die Anwesenheit der jüdischen Bevölkerung einem breiten Leserkreis zugängig zu machen. Größtenteils handelt es sich dabei um Texte, die erstmals auf Deutsch erscheinen.
Wie der Herausgeber bereits in der Einleitung festhält, war der 'Leitende Gedanke ' weniger, ein um Ausgewogenheit bemühtes Spektrum wohlgesonnener und kritischer Stimmen zu Wort kommen zu lassen.' Stattdessen, so die Einschätzung der Herausgeber, überwiegen Texte, die die polnisch-jüdischen Beziehungen kritisch bzw. skeptisch sehen, und die 'Abgesondertheit' der jüdischen Bevölkerung betonen. Grundlegendes Kriterium der Auswahl der Texte war es, 'ein möglichst breite[s] Spektrum der sozialen Herkünfte, intellektuellen Interessenslagen und individuellen Motivationen zu Wort kommen [zu] lassen.' (S. 15) In der Tat zeigen die Texte ein große Bandbreite an Reaktionen auf die Anwesenheit der jüdischen Gemeinschaft, die von Antisemitismus verschiedener Couleur über Assimilationsabsichten bis hin zu Gedanken über eine Schicksalsgemeinschaft und Gleichberechtigung reichen. Zugleich gibt der Herausgeber zu bedenken, dass die Texte Rückschlüsse auf die Selbstwahrnehmung von Polen ermöglichen.
Den Zeitabschnitten von 1881 (Warschauer Pogrom) bis 1918 (Wiedererlangung der Unabhängigkeit) und der Zeit nach 1968 (der sog. 'antizionistischen Kampagne') wird großer Platz eingeräumt, während die Zeit zwischen 1859 und 1881 sowie der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegsjahre bis 1968 in einem geringeren Maße ' jedenfalls von der Anzahl der Dokumente her ' vertreten sind. Gerahmt werden die einzelnen Abschnitte von einer sehr kurzen Einleitung.
Die Texte ' selbst die emanzipatorischen ' sind von der vermeintlichen Wahrnehmung der Andersartigkeit der jüdischen Bevölkerung geprägt. Dies verstärkte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als nach den niedergeschlagenen Aufständen die polnischen Eliten sich auf die organische Arbeit, d.h. die Aufrechterhaltung der kulturellen Eigenart, konzentrierten. Dies erzeugte einen Gegensatz zu einer Akkulturation negierenden jüdischen Gemeinschaft, der die polnischen Eliten Gleichgültigkeit gegenüber den polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen ' und schlimmer noch: einen aufkommenden jüdischen Nationalismus in Form des Zionismus ' vorwarfen. Zugleich kam es gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Verschränkung mit der sozialen Frage.
Der Sammelband belegt deutlich die ambivalenten Tendenzen, die innerhalb der polnischen Eliten ' auch während des Zweiten Weltkrieges ' vorherrschten. Die Nachkriegszeit hingegen ist gekennzeichnet von der Auseinandersetzung um die Erinnerung an den Krieg sowie der 'antizionistischen Kampagne' des Jahres 1968, die zu einem Massenexodus der polnischen Juden führte. Das Schlusskapitel 'Stagnation, Aufbruch und neue Perspektiven seit 1968' zeigt kaleidoskopartig das Wiedererwachen des Interesses für die Geschichte der polnischen Juden in den 1980er Jahren sowie den ' besonders in den 1990er Jahren ' immer wieder auftretenden Antisemitismus. Den Abschluss bildet ein (in der Tat sehr!) kurzer Einblick in die Jedwabne-Debatte anhand des Textes von Marta Kurkowska-Budzan 'Mein Jedwabne'. Ein Personenregister mit kurzen biografischen Angaben zu den Autoren vollendet den Sammelband.
Das sprachliche Niveau des Bandes ist durchgängig sehr hoch, die Übersetzungen sind gelungen. Jedoch trüben einige kleinere Mankos das Gesamtbild. So sind hinsichtlich des Anmerkungsapparates deutliche Disparitäten zu erkennen. Teilweise beschränken sich die Anmerkungen auf diejenigen der Autoren. Generell wären mehr den Hintergrund erklärende Erläuterungen hilfreich gewesen; ebenso eine stringente Kenntlichmachung von eigenen und Autorenanmerkungen sowie eine stringente Verortung (im Text vs. in der Fußnote). Mitunter kommt es aufgrund der unterschiedlichen Übersetzer zu einer Dopplung von Anmerkungen, an einigen Stellen fehlt die Übersetzung der polnischen Literatur (u.a. S. 420). Hinsichtlich der Namensgebung hätte eine Vereinheitlichung vorgenommen werden können: So wurde der Gründer einer jüdischen Sekte als 'Jakob', 'Jakub' (S.110) bzw. 'Jakób Frank' (S. 289) bezeichnet; ähnlich mit 'Zionismus' bzw. 'Tsionismus' (u.a. S. 367). Die Einleitungen zu den einzelnen Kapiteln lassen manche Hintergrundinformationen vermissen.
Dennoch bildet der Sammelband eine gute Grundlage, um einen Einblick in die polnischen Reaktionen auf die jüdische Anwesenheit zu gewähren. Zwar existieren bereits andere Quelleneditionen zu den polnisch-jüdischen Beziehungen, diese haben jedoch meist den Zweiten Weltkrieg sowie die Nachkriegszeit und das Jahr 1968 im Blick. Gerade der lange Zeitraum von 1800 bis in die Gegenwart hinein ist eine interessante Erweiterung des Problemkomplexes, der die langfristigen Entwicklungen innerhalb der Wahrnehmung der Anwesenheit der jüdischen Bevölkerung durch Polen aufzeigt.