Der patagonische Hase
Erinnerungen

Es gibt Passagen, da möchte man das fast siebenhundert Seiten starke Konvolut nur noch angewidert aus der Hand legen, um nie mehr hineinzusehen. Der 85-jährige Claude Lanzmann berichtet von einem Israel-Aufenthalt im Jahre 1987. Der Flugzeugnarr erhält die nahezu einmalige Gelegenheit, in Kampfflugzeugen der Armee mitzufliegen. Seine Schilderungen schließt er ab: "Ich hatte diesmal mit einem nur verhältnismäßig kurzen Bewusstseinsverlust, ohne mit der Wimper zu zucken, ohne Einspruch, ohne Aufheulen, ohne mich zu übergeben, 7 g ausgehalten, hatte also siebenmal mein eigenes Gewicht - das heißt sechshundert Kilo - gewogen. Alle hielten das für enorm. Ich auch."
Klaus Theweleit hätte daran seine wahre Freude. Vielleicht ist das aber immer noch besser, als wenn er wie andere Gleichaltrige in ihren Erinnerungen ihren anhaltenden sexuellen Erfolg kommentieren oder im Tagebuch den Verlauf seines Stuhlgangs festhalten würde. Eins steht jedenfalls fest: der große Journalist und Filmregisseur leidet bestimmt nicht an Selbstzweifeln, dennoch erwähnt er immer wieder das Lob, das er von anderen für seine Arbeit erhalten hat. Gewiss ist es so, dass in seinem Innersten eigentlich ein weicher, sensibler Kern steckt. Das zeigen andere Teile dieses Buches mehr als deutlich.
Auf die Erinnerungen Lanzmanns ist lange gewartet worden und man kann letztlich mit voller Überzeugung sagen, dass das Warten sich gelohnt hat.
Naturgemäß bildet das Privatleben einen Schwerpunkt von Erinnerungen. Dabei lässt Lanzmann gegenüber seinen beiden Ehefrauen ein recht hohes Maß an Diskretion walten, viel ausführlicher und aussagekräftiger sind die Ausführungen über seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir bzw. das Dreiecksverhältnis ' wie man es im geistigen Sinne sicher nennen kann ' unter Einschluss Jean-Paul Sartres. Am eindringlichsten ist sicherlich aber die Charakterisierung seiner Schwester, der Schauspielerin Évelyne Rey, die 1966 Selbstmord beging. Sehr bildhaft geraten ist auch die Darstellung seiner Eltern und wichtigen Freunde. Lanzmann schreckt mitunter nicht vor harten Urteilen zurück, zeigte sich aber doch häufig versöhnungsbereit.
Die Beschreibung seiner (kommunistischen) Jugendzeit, der Kampf in der Résistance, des glücklichen Überlebens ist an manchen Stellen vielleicht etwas heldenhaft-verklärt ausgefallen, die Schilderung der Atmosphäre im befreiten Paris 1945/1946, seines Hungers auf Leben, Liebe und Philosophie entschädigen dafür jedoch unbedingt.
Lanzmanns Suche nach seiner Identität, seiner geistigen wie konkreten Heimat, zieht sich durch das ganze Buch. Natürlich ist Frankreich 'sein' Land, in gewissem Sinne aber auch Israel, eine vollständige Identifikation gelingt ihm aber in keinem dieser Staaten.
Wenig bekannt in Deutschland, dem Land, dem er trotz der von ihm ausgegangenen Verbrechen ein hohes Maß an Zuneigung entgegenbringt, ist Lanzmann als mutiger Intellektueller, der gegen den Algerienkrieg kämpfte und zahlreiche bedeutende Reportagen verfasste, die zu den Klassikern des 20. Jahrhunderts gehören. Vielleicht wird er als wichtiger Journalist wiederentdeckt werden, sobald diese Berichte in gesammelter Form vorliegen.
Die Rede in diesem Buch muss natürlich auch von dem sein, was Lanzmanns Leben zweifellos am stärksten prägte: den langen Jahren der Vorbereitung, des Drehens und dann der Rezeption des filmischen Meisterwerks 'Shoah'. Der Regisseur beschreibt die massiven Schwierigkeiten bei der Finanzierung ebenso wie die Entwicklung des Konzepts und die Rolle der Hauptprotagonisten dabei. Deutlich wird aber auch die Verbissenheit und Hartnäckigkeit Lanzmanns, die den Erfolg dieses Projektes überhaupt erst ermöglichte. Bei aller Kritik, die gerade aus Mittel- und Osteuropa an ihm geübt worden ist, erscheint 'Shoah' mit seiner 'Perspektive der Toten' im Rückblick doch als der wohl bedeutendste Versuch, ein Verbrechen zu zeigen, das eigentlich nicht zu zeigen ist, weil ' wie Lanzmann sich ausdrückte ' niemand die Gaskammern wieder lebend verlassen hat.
Man könnte über diese Erinnerungen noch vieles schreiben, etwa über die beeindruckenden und anrührenden Passagen von Lanzmanns Nordkorea-Reisen oder seine Ausführungen zur Todesstrafe, so bleibt aber auf den beinahe 700 Seiten für den Leser noch manches zu entdecken. In den meisten Fällen ist das Lektorat des Buches sorgfältig ausgefallen, dies gilt allerdings nicht für die Verstümmlung mancher polnischer Orts- und Personennamen.