Das Wissen um Auschwitz
Täter und Opfer der "Endlösung" in Westeuropa

Saul Friedländer hat in seiner beeindruckenden Gesamtdarstellung zur Vernichtung der europäischen Juden bemerkt, wie wichtig es ihm sei, sich angesichts der Opferzeugnisse bei aller wissenschaftlichen Analyse das primäre Gefühl der "Fassungslosigkeit" zu bewahren. Wie dies aussehen kann, das beweist Ahlrich Meyers neues Buch sehr eindrücklich.
Meyer verweist auf die zahlreichen mehr oder weniger gelungenen Versuche, das Wissen "der Deutschen" um Auschwitz und den Holocaust zu untersuchen. Er wundert sich darüber, dass die Frage nach dem Wissen der Täter und dem Wissen der Opfer bisher kaum Gegenstand historischer Untersuchungen war. In Das Wissen um Auschwitz macht er sich auf die Suche nach einschlägigen Zeugnissen von Tätern und Opfern in Westeuropa, d.h. in Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Herausgekommen ist ein sehr reflexives, eindrückliches Buch, das sowohl inhaltlich als auch methodisch nach neuen Antworten und Ansätzen sucht.
Im ersten Teil des Buchs geht er dem Wissen der Täter nach. Dabei wird deutlich, dass bei vielen Besatzungsfunktionären "gesichertes Wissen" um das Schicksal der nach Osten deportierten Juden selten war, was selbstverständlich nicht für die SS und SD-Verantwortlichen in den besetzten Ländern galt. Meyer zeigt, dass es vor allem die Nähe zu Entscheidungsinstanzen und, noch mehr, 'individuelle Dispositionen' waren, die das Wissen oder Nicht-Wissen bestimmten. Einmal mehr werden auch die Schutzbehauptungen der Täter als Angeklagte oder Zeugen bei den Nachkriegsprozessen entlarvt. Meyer stellt jedoch auch die These auf, nach der selbst ein größerer Informationsfluss und mehr 'Wissen' den Ablauf des Holocaust in Westeuropa nicht beeinträchtigt hätten; die geographische Distanz zu den Vernichtungsstätten, die arbeitsteilige Organisation und die faktische Nichtvorstellbarkeit erlaubten es vielen 'Tatbeteiligten, für sich die Fiktion des Nichtwissens aufrechtzuerhalten'.
Die Nachkriegsprozesse und ihre Vorbereitungen bilden den Kern des zweiten Buchteils zu den 'Zeugnissen der Überlebenden'. Der Zugang zu belgischen Prozess- und Gerichtsquellen ermöglicht Meyer hier, sich auf eine doch recht breite Quellengrundlage zu stützen. Er ist sich dabei der problematischen Benutzung von Nachkriegsaussagen, die darüber hinaus noch in der Sprache der vernehmenden Beamten und in einer damit eher formalen Sprache abgefasst sind, durchaus bewusst. Trotzdem hätte man sich an dieser Stelle eine noch tiefere, theoretisch-methodische Beschäftigung mit dieser Art von Quellen gewünscht, wie er sie etwa an anderer Stelle für literarische Zeugnisse leistet.
Die Lektüre der Aussagen der Überlebenden verstört dabei zutiefst. Sie offenbart die gesamte Palette des Täterverhaltens vom Schweigen, über Andeutungen und Täuschungen bis hin zur offenen Todesdrohung (vor allem gegen Kriegsende). Vor allem aber offenbart sie die Nichtvorstellbarkeit des Geschehens für die Opfer. Vielen wird erst bei ihrem Eintreffen in Auschwitz ' gerade bei der 'Selektion' ' klar, welches Ausmaß des Todes und der Vernichtung die Deportation nach dem Osten bedeutete. Dies hat selbstverständlich gravierende Auswirkungen auf ihre Nachkriegsaussagen, die Meyer auch immer mitbedenkt.
Im letzten Teil des Buches stellt Meyer drei Tagebücher ' jeweils aus den betrachteten Ländern ' vor. Etty Hillesum (aus Amsterdam), Moshe Flinker (aus Brüssel) und Hélène Berr (aus Paris) überlebten den Holocaust nicht. Ihre Zeugnisse belegen einerseits eine illusionslose Betrachtung der deutschen Vernichtungspolitik und stehen doch andererseits für Hoffnungen und Zukunftspläne, die viele Juden trotz der Todesdrohungen immer noch hatten.
Ahlrich Meyer hat ein beklemmendes Buch geschrieben, das zurecht auf das Paradox verweist, dass das 'faktische Geschehen an keine Vorstellung heranreicht, während doch die Schreiber Zeugnis davon ablegen'.