Kritische Theorie

Im April 2010 wurde die Reclam-Reihe Grundwissen Philosophie um einen neuen Band erweitert. Die Rede ist von Gerhard Schweppenhäusers Einführung in das analytische Denken der Frankfurter Schule, die unter dem Titel 'Kritische Theorie' erschien. Sie umfasst 140 Seiten, ist für wohlfeile 9,90 Euro im Handel erhältlich und geht, wie schon der im Piet-Mondrian-Stil gehaltene Umschlag verspricht, auf Kernthesen, Schlüsselbegriffe sowie historische Kontexte ein. Für dieses Buchprojekt bot sich der Autor, seines Zeichens Professor für Design-, Kommunikations- und Medientheorie an der Fachhochschule Würzburg, geradezu an. So hat er nicht nur mehrere inhaltlich verwandte Monographien verfasst ' z.B. 'Emanzipationstheorie und Ideologiekritik' (1990), 'Ethik nach Auschwitz' (1993), 'Soziologie im Spätkapitalismus'  (1995), 'Theodor W. Adorno' (1996) oder 'Die Antinomie des Universalismus' (2005) ' , sondern gehört zugleich zu den Gründungsherausgebern der 'Zeitschrift für kritische Theorie' (seit 1995).

Wie vertraut er mit der Materie ist, kann man bereits am Auftakt der Einleitung ablesen. Dort liefert er ohne Umschweife eine Definition des Gegenstands und gibt die Sichtweise vor, unter der die nachfolgenden Punkte beleuchtet werden: 'Kritische Theorie ist ein Typus moderner Sozialphilosophie, der zwischen der Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie ist, und einer sozialen Wirklichkeit, die sein könnte, unterscheidet. Ihre Begriffe sind sowohl deskriptiv als auch normativ' (S. 7). Diese ebenso bündige wie schnörkellos formulierte Begriffsbestimmung zieht sich durch das gesamte Buch ' sei es im ersten Hauptteil, in dem Schweppenhäuser 'Entwürfe und Methodologien' (S. 12-65) behandelt, oder im zweiten, wo er bestimmte 'Konzepte und Erkenntnismodelle'  (S. 66-112) vorstellt. Wenn er daher erklärt, dass der frühe Horkheimer die 'praxisorientierte Erkenntnis der soziökonomischen Strukturen' (S. 18) einerseits gegen die akademische Philosophie, andererseits gegen die empirischen Gesellschaftswissenschaften positionierte und gleichzeitig den theoretischen Anschluss an die sozialrevolutionäre Bewegung offenhielt, betont er dessen emanzipatorischen Anspruch. Dasselbe ist in den Kapiteln über die Weiterentwicklung des Neomarxismus zur 'Sozialpathologie der Moderne' zu beobachten. Auch hier charakterisiert Schweppenhäuser die Methode der Frankfurter Schule als unverholen normativ, indem er ihren Appell an die 'Selbstbesinnung der Vernunft'  ins Zentrum seiner Ausführungen stellt. Ähnliche Passagen finden sich im Abschnitt 'Pessimisten in der Theorie, Optimisten in der Praxis' (S. 48ff.), wo er auf die nachhaltige Wirkung des Adorno-Diktums 'Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste Erziehung' zu sprechen kommt. Darüber hinaus hebt der Verfasser das sozialkritische Potential der 'Negativen Dialektik' heraus und benennt die subversiven Ziele von Marcuses 'Großer Weigerung' . Eine gesellschaftsverändernde Intention erkennt er aber auch in der Kommunikations- und Handlungstheorie von Habermas, derzufolge die mögliche Gleichheit aller reflexionsfähigen Subjekte die Grundlage jeglicher Kritik an Ungleichheit darstellt. Schweppenhäuser ist also konsequent, wenn er eine solche 'Philosophie des Seinsollens'  ganz klar von positivistischen, ahistorischen oder kontemplativen Ansätzen abgrenzt. Außerdem versteht er es, weit verbreitete Missverständnisse auszuräumen, darunter die Annahme, die Kritische Theorie entwerfe ein System. Dieser Auffassung hält er das Faktum entgegen, dass 'Horkheimer und seine Kollegen das Adjektiv 'kritisch' in Verbindung mit 'Theorie' nie großgeschrieben haben' (S. 28). Von einem Schulzusammenhang könne man daher kaum sprechen, wohl aber von einer gemeinsamen Haltung, die sich 'im geistigen Widerstand gegen die unreflektierte oder ideologisch legitimierte Hinnahme der bestehenden Verhältnisse' (ebd.) mitteile. Überdies macht Schweppenhäuser deutlich, dass die antiautoritäre Erziehung, wie sie vor allem in den 1970er Jahren vertreten wurde, nicht vom 'Desinteresse an ordnenden Strukturen' (S. 90) geprägt war, sondern Kindern und Jugendlichen kontrollierte Freiräume schaffen wollte. Hierzu beruft er sich auf aktuelle Repräsentanten der Kritischen Theorie wie Oskar Negt, Andreas Gruschka oder Axel Honneth. Neben der Pädagogik gilt sein Interesse allerdings noch einem weiteren Themengebiet: der Ästhetik. Dabei setzt sich der Autor insbesondere mit dem 'Doppelcharakter der Kunst' auseinander, der in den Werken von Horkheimer, Adorno und Marcuse eine große Rolle spielt. Danach steht das Ästhetische zwar in Wechselwirkung mit sozialen Prozessen, doch besitzt es ebenfalls ein eigenes System von Werten, Normen, Inhalten und Formen. Dass es hier zu theoretischen Spannungen kommt, verleugnet Schweppenhäuser nicht. So legt er beispielsweise dar, wie Adorno zum einen die Autonomie des Kunstwerks verteidigt, zum anderen aber dessen Qualität ausgerechnet am Widerstandsgrad gegen die Realität festmacht. Entsprechendes konstatiert er − wiewohl affirmativ − bei Habermas, der die ästhetische Erfahrung für den privilegierten Zugang zum vorsprachlichen Bewusstsein hält:

'Ästhetische Artikulation, Reflexion und Kommunikation können nur gelingen, wenn die Medien, Werke und Praxisformen, in denen sie stattfinden, nicht primär als Mittel oder Anlässe der Kommunikation fungieren. Das klingt paradox, ist aber folgerichtig, wenn man sich vergegenwärtigt, dass ästhetische Gebilde keine Instrumentalisierung vertragen. Sie können dann am meisten für uns leisten, wenn wir sie selbst sein lassen' (S. 101).

Wie janusköpfig und heterogen die kunstphilosophischen Positionen der Frankfurter Schule sind, illustriert der Verfasser schließlich am Beispiel der Massenkultur. Während nämlich Horkheimer, Adorno und Marcuse starke Aversionen gegen die trivialisierenden Tendenzen der Unterhaltungsindustrie hegen, lässt Benjamin die Unterscheidung zwischen hoher und niederer Kunst hinter sich. Als Synthese aus beiden Auffassungen bietet Schweppenhäuser unter anderem den 'ambivalenten' Ansatz von Habermas an: '[Massenmedien] ermöglichen sowohl zentralisierte Kontrolle und Manipulation als auch dezentrale Verständigung und Interessenartikulation der Menschen '' (S.107).

Insofern handelt es sich bei der vorliegenden Einführung um ein differenziertes Buch, das ein breites Spektrum von Standpunkten abbildet und der Kritischen Theorie in ihrer historischen Entwicklung angemessen Rechnung trägt. Es ist flüssig geschrieben, bewegt sich auf hohem Argumentationsniveau und eignet sich gleichermaßen für Studienanfänger wie für interessierte Laien. Hierzu trägt auch die kommentierte Bibliographie bei, die verlässliche Informationen zur weiterführenden Lektüre bereitstellt. Das Verzeichnis der Schlüsselbegriffe, das von 'Antisemitismus' über 'Fetischcharakter der Ware' , 'Ideologie' und 'Kulturindustrie' bis hin zu 'Verblendungszusammenhang' reicht, rundet das positive Bild ab. Nichtsdestotrotz muss auf ein oder zwei Schwachstellen hingewiesen werden. So stellt sich z.B. die Frage, warum es der sonst sehr gewissenhafte Autor bei seiner Kritik an der Postmoderne bei plakativen Behauptungen belässt, anstatt seine Meinung hinreichend zu begründen:

'Die Moderne ist nicht beendet und durch eine Postmoderne abgelöst worden, wie man einige Jahre lang aus Frankreich hörte; sie ist vielmehr mit sich uneins. Daran ändert sich auch nichts, wenn man sie als 'unvollendetes Projekt'  auffasst (wie Jürgen Habermas) oder die gegenwärtige Epoche als 'selbstreflexive Moderne'  beschreibt (wie der englische Soziologe Anthony Giddens) oder gar als 'zweite Moderne' (wie der Kunsthistoriker Heinrich Klotz). Eine dialektische Theorie kann das Mit-sich-uneins-Sein der Moderne am besten erfassen' (S. 36).

Das verwundert umso mehr, als er zu eben diesem Thema schon gearbeitet hat − etwa in dem Aufsatzband 'Postmoderne Kultur?' (1997), den er zusammen mit Claudia Rademacher herausgab. Doch seine Nachlässigkeit im Umgang mit Epochenbezeichnungen tritt auch anderenorts zutage. Wenn er nämlich die Romantik im Zusammenhang mit Leo Löwenthals Hamsun-Aufsatz eindeutig der Vormoderne (vgl. S. 39) zuordnet, dann aber die Moderne mit Friedrich Schillers 'Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen' (1793-1801) beginnen lässt (vgl. S. 102), sorgt er für unnötige Verwirrung. Eine Definition des für die Frankfurter Schule so bedeutsamen Referenzbegriffs wäre dringend vonnöten gewesen. Ungeachtet dessen ist Schweppenhäusers Propädeutik aber ohne weiters zu empfehlen, da sie eine klare Linie verfolgt und einen hervorragenden Einblick in die Schwerpunkte der Kritischen Theorie gibt.