Poetik des Transfers
'Das Hebräerland' von Else Lasker-Schüler

Das tradierte Bild von Else Lasker-Schüler ist noch immer das einer großen Lyrikerin und einer vor allem im Exil tragisch unglücklichen, emotional exaltierten 'Dichterin' . Zu intellektueller Auseinandersetzung soll sie diesem Mythos nach nicht fähig gewesen sein. Doch ausgerechnet ihr letztes veröffentlichtes Prosawerk aus dem Exil 'Das Hebräerland' (1937) über ihre erste Reise ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina beweist das Gegenteil. Grafs Studie, die erste, die sich ausschließlich diesem poetologisch hochinteressanten Werk widmet, arbeitet dies in beeindruckender Weise heraus.
Geschult an den wichtigen Arbeiten, die seit den 1990er Jahren Lasker-Schülers Beitrag zur Literatur der Moderne und ihre Zugehörigkeit zur Avantgarde, gerade an Hand ihrer Prosa, herausgearbeitet haben (M. Feßmann 1992, V. Liska 1998, D. Bischoff 1998 und 2002, M. Hallensleben 2000, T. Höfert 2002), geht sie diesen Weg konsequent weiter.
Graf unternimmt es, 'Das Hebräerland' als 'Poetik des Transfers' zu untersuchen und es in den Kontext der kulturtheoretischen Schriften W. Benjamins, S. Freuds, J. Kristevas, M. Foucaults und M. Idels zu stellen. Dabei verwendet sie ein Lektüremodell psychoanalytischer Prägung, wie es ein literaturwissenschaftlicher Poststrukturalismus nach S. Weigel begründet hat. Lektüre wird mit J. Derrida als Lese- und Entzifferungsvorgang von palimpsestartigen Strukturen ohne ersten/ursprünglichen Sinn verstanden. Graf interessieren bei der Herausarbeitung von Lasker-Schülers Poetik die buchstäblichen und semiotischen Textverfahren. Dieses Vorgehen wird Lasker-Schülers komplexem Text, dessen Überdeterminiertheit Graf betont, in besonderem Maße gerecht.
Zunächst erfolgt die Darstellung des entstehungsgeschichtlichen Hintergrundes des 'Hebräerlandes' (I. Kapitel). Im II. Kapitel zeigt Graf, welche Bearbeitungsverfahren des Textes sich aus den Materialien im Nachlass ablesen lassen (Auslassung, Verdichtung, Verschiebung ins Sakrale). Anschließend kommt sie zu ihrem Kernanliegen, Lasker-Schülers 'Reisebericht' im Kontext kulturtheoretischer Schriften zu lesen.
Als wichtige Bedeutungsschicht der 'Poetik des Transfers' werden im III. Kapitel Topographien und Raumvorstellungen untersucht. Graf zeigt, dass Lasker-Schülers Palästina-Entwurf Ähnlichkeiten mit Foucaults Konzept der 'Heterotopie' aufweist, da es weder eine Utopie noch einen realen topographischen Raumentwurf darstellt.
Im IV. Kapitel wird die Poetik des 'Hebräerlands' , von Graf mit M. Blanchot als 'Land der Überschreitungen' gelesen, konkretisiert. Zentrale Beobachtung ist, dass im 'Hebräerland' die dichterische Sprache als ein Drittes zwischen religiösem und profanem Sprachgebrauch entworfen und eingesetzt werde. Das Erzählen erscheint als Offenbaren, die Dichterin tritt dabei an die Stelle Gottes. Dies sei als transformierte Wiederkehr des Sakralen nach dem 'Tod Gottes' (F. Nietzsche) zu verstehen. Lasker-Schülers poetologische Reflexionen und die Transformation eines religiösen Offenbarungsbegriffs in einen poetologischen, sieht Graf dabei in der Nähe jüdischer Schriftkonzepte, wie der Sprachphilosophie Walter Benjamins.
Hier bezieht Graf eine wichtige Position zu einem zentralen Problem der neueren Lasker-Schüler-Forschung, das an diesem konkreten Text überzeugend gelöst wird. Während Hallensleben (2000) alles Religiöse in das rein Ästhetische aufgelöst hatte, vereindeutigten AutorInnen wie A. Hennecke-Weicher (2003) und D. Hoffmann (2002) Lasker-Schülers Schreiben als rein religiöses. Graf gelingt es, die bei D. Bischoff (1998 und 2002) erstmals erarbeitete Zwischenposition genauer zu beschreiben.
Zuletzt werden in den Kapiteln V und VI Transferbewegungen im 'Hebräerland' zwischen jüdischen Schrifttraditionen und zeitnahen kulturwissenschaftlichen Diskursen, also die in den Text eingegangenen Spuren der Kulturtheorie der Moderne untersucht. Graf nimmt sich dabei einer weiteren Lücke der Lasker-Schüler-Forschung an: Lasker-Schüler und die Psychoanalyse. Dabei geht es ihr explizit nicht darum, S. Freuds Einfluss auf Lasker-Schüler zu demonstrieren, sondern um strukturelle Ähnlichkeiten und Korrespondenzen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Lasker-Schülers Text dabei Freuds 'Der Mann Moses und die monotheistische Religion' (1939 (1934-1938) vergleichbar ist, da beide Texte am Schnittpunkt religiöser und kulturwissenschaftlicher Diskurse operieren.
Insgesamt legt Graf eine sehr gelungen Studie vor, die ihrem komplexen Gegenstand gerecht wird, ohne bei aller aktuellen Theorie die eigentliche Textarbeit zu vernachlässigen. Besonders hervorzuheben ist, dass Graf Lasker-Schülers diffizil eingesetzte Ironie nicht übersieht und so manches Fehlurteil vermeiden kann.
Allein dem Themenfeld Lasker-Schüler und die Psychoanalyse sollte dringend nicht nur in der Dimension kulturwissenschaftlicher Diskurse und nicht nur im 'Hebräerland' , sondern in dessen ganzen Umfang im Gesamtwerk nachgegangen werden.