Das 'Großdeutsche Reich' und die Juden
Nationalsozialistische Verfolgung in den 'angegliederten' Gebieten

Während sich das nationalsozialistische Regime seit 1933 eifrig darum bemühte, möglichst viele deutsche Juden zur Auswanderung zu nötigen, musste es seit 1938 mit ansehen, wie mit jedem Gebietsgewinn wieder mehr Juden in seinen Machtbereich gerieten. Ein systematischer Vergleich des Umgangs mit der jüdischen Minderheit in den vom 'Großdeutschen Reich' eingegliederten Gebieten fehlte bisher. Der vorliegende Band, mit Wolf Gruner und Jörg Osterloh herausgegeben und eingeleitet von zwei vorzüglichen Kennern der NS-Judenverfolgung, bietet eine Übersicht über die Judenverfolgung in den eingegliederten Gebieten und zeigt die regionalen Besonderheiten der antijüdischen Politik und ihrer Durchsetzung.
Die kenntnisreichen, der besseren Vergleichbarkeit wegen ähnlich strukturierten Artikel wurden von einschlägigen Experten für die jeweilige Region (so etwa Sybille Steinbacher zu Ostoberschlesien und Jörg Osterloh zum Sudetenland) verfasst. Herausgearbeitet werden die Einflüsse der Institutionen und Akteure in den Regionen, die germanisiert werden sollten, in denen es zugleich eine 'Judenfrage'  zu lösen galt. Die Wechselwirkungen zwischen den Maßnahmen vor Ort und den Verordnungen aus Berlin werden ebenso thematisiert wie die inhaltlichen und personellen Kontinuitäten: Bei der Besetzung von Ämtern in neu besetzten Gebieten wurde immer wieder auf erfahrenes Personal zurückgegriffen, auch 'lernten'  die NS-Funktionäre aus den anderen Regionen, so baute die antijüdische Politik im Sudetengau deutlich auf die in Österreich auf.
Es erübrigt sich bei einem Sammelband eigentlich der Hinweis darauf, dass die Aufsätze von unterschiedlicher Qualität sind. Dies hängt in diesem Fall allerdings vor allem auch damit zusammen, wie umfangreich die Quellenbestände sind, auf die die Autoren zurückgreifen konnten, aus einigen Regionen sind kaum zeitgenössische Dokumente überliefert, aus anderen dagegen sehr zahlreiche. Doch macht etwa Ruth Leiserowitz aus der Not eine Tugend und zitiert ausführlich aus Erinnerungen von Juden aus dem Memelgebiet. Ebenso bestehen natürlich Unterschiede im jeweiligen Forschungsstand, was sich auch in den Artikeln widerspiegelt. Während etwa Christoph Brüll weder auf umfangreiche Forschungen noch besonders zahlreiche Quellen zu Eupen-Malmedy zurückgreifen kann, zumal die Geschichte von Juden in dieser Region fast ausschließlich die Geschichte von Flüchtlingen ist, schöpfen andere Autoren hier eher aus dem Vollen und können auch Forschungsdiskussionen aufgreifen. Wolf Gruners These, die tschechische Regierung habe im Protektorat Böhmen und Mähren weit größeren Einfluss auf die 'Judenpolitik'  gehabt als die bisherige Forschung ihr zuspricht, erscheint im Licht der Quellen allerdings fragwürdig, galt dies doch ganz offenbar nur für Bereiche, an denen deutsche Stellen schlichtweg kein Interesse hatten. Doch lässt sich hierüber natürlich streiten. Nicht zuletzt bestehen große Unterschiede zwischen der Anzahl der Juden in den jeweiligen Gebieten und dem Zeitpunkt, in dem diese 'judenfrei'  wurden, so haben manche der Autoren gewissermaßen einen größeren Untersuchungsgegenstand.
Äußerst nützlich für die weiterführende Lektüre sind der Literatur- und Forschungsüberblick sowie die nach Regionen gegliederte Auswahlbibliografie am Ende des Bandes, die die Herausgeber gemeinsam mit den Autoren erstellt haben. Der vielfältige Band überzeugt und setzt einen wichtigen Akzent in der Holocaustforschung. Zu wünschen wäre ein Band, der eine solche vergleichende Analyse von Handlungsweisen und Perspektiven auch im Hinblick auf die jüdische Bevölkerung in den 'angegliederten'  Gebieten des 'Großdeutschen Reiches'  unternimmt.