Perspektiven des Todes in der modernen Gesellschaft

Allenthalben liest man von der Undarstellbarkeit des Todes. Das verwundert umso mehr angesichts der Fülle an Material, das in den letzten Jahren zum Thema veröffentlicht wurde. Nun liegt mit dem von Cornelia Klinger in der 'Wiener Reihe' herausgegebenen Sammelband ein weiteres profundes Zeugnis der Darstellbarkeit des Todes vor.
In dreizehn Beiträgen, darunter zwei englischsprachigen, werden Tod und Sterben in den verschiedensten Facetten beleuchtet: Vom Tod als 'blinden Fleck' in der Fotografie über eine Diskussion des Hirntodkriteriums bis hin zu den technikbegeisterten Fantasien der Posthumanisten, die den Tod überhaupt abschaffen wollen, wird uns ein interdisziplinäres Panorama gegenwärtiger Todesforschung präsentiert. Schon der Titel des Bandes weist mit Bedacht darauf hin, dass all dieses Wissen über Tod und Sterben an 'Perspektiven des Todes' gebunden ist ' Perspektiven, die sich erst vor dem Hintergrund einer bestimmten Gesellschaft, bestimmter Praxen und wissenschaftlicher Methoden zur Entfaltung bringen lassen. So bemerkt Cornelia Klinger in ihrer Einleitung treffend, dass die Frage nach dem Tod immer auch die Frage nach dem Leben, nach Gesellschaft und Kultur sei. Auch wenn die Beiträge in diesem Band eher unzusammenhängend präsentiert werden, so können sie doch, Klingers Direktive folgend, unter der Perspektive des vielfältigen Zusammenhangs von Leben, Sterben und Tod gelesen und aufeinander bezogen werden
Dass dieser Zusammenhang bereits im Christentum ernst genommen wurde, weiß Eberhard Jüngel in seinem Beitrag zu berichten. Christoph Markschies geht sogar so weit, den Jenseitsbezug religiöser Todesvorstellungen überhaupt für überschätzt zu halten, und zeigt, dass die jüdisch-christliche Tradition von Bert Brechts: 'Lasst euch nicht verführen [...] es kommt kein Morgen mehr!' gar nicht soweit entfernt ist, wie die marxistische und psychoanalytische Religionskritik voraussetzt.
Begreift man den Tod als eine Möglichkeit des Lebens, so stellt sich aus philosophischer Perspektive die Frage, wie diese Möglichkeit begrifflich gefasst werden kann: Iris Därmann vertritt in ihrem Beitrag die These, dass dies prinzipiell nur über eine Reflexion der Erfahrung des Todes Anderer möglich sei. So verwundert es nicht, dass sie Heideggers Begriff des Todes als eigenste Möglichkeit für eine 'ungeheure Reduktion' hält und selbst Freuds Thanatologie eine unzulässige Fixierung auf den, zwar verleugneten, aber doch je eigenen Tod, nachweist.
Im Unterschied zur philosophischen Reflexion informieren die soziologischen, medizinischen und kulturwissenschaftlichen Beiträge über die konkreten Praxen im Umgang mit dem Tod sowie über die faktischen Einstellungen und Vorstellungen von Menschen. Die Soziologen Hahn und Hoffmann decken konkrete Abhängigkeitsstrukturen von Sterbenden in Hospizen und Krankenhäusern auf und zeigen, wovor sich Menschen angesichts des Todes wirklich fürchten. Aus psychiatrischer Perspektive fragen Helmchen und Lauter nach den Möglichkeiten eines selbstbestimmten Sterbens unter den Bedingungen moderner Medizin und Kathleen Foley berichtet von den erfolgreichen Bemühungen verschiedener Organisationen, Palliativmedizin und Hospize für sozial ausgegrenzte Gruppen in den USA zu etablieren.
Die empirisch informierten Beiträge bilden eine gute Ergänzung zu den geisteswissenschaftlich ausgerichteten Untersuchungen. Gleichwohl bleibt diese Ergänzung formal und lässt einen systematischen Zusammenhang zwischen den hier verhandelten sozial- und geisteswissenschaftlichen Fragestellungen weitestgehend vermissen.
Am ehesten ist ein solcher Zusammenhang bei den beiden Texten gegeben, die in methodisch unterschiedlicher Stoßrichtung das Hirntodkonzept diskutieren: Anna Bergmann sieht in der Transplantationsmedizin animistisch-magische Todesvorstellungen wiederbelebt und wertet dieses Phänomen als Resultat einer 'auf die Spitze getriebenen Zweckrationalität im Umgang mit Sterben und Tod', dessen manifester Ausdruck das Hirntodkonzept sei. Hans-Ludwig Schreiber verteidigt hingegen die geltenden Todeskriterien aus rechtswissenschaftlicher Perspektive, indem er darauf hinweist, dass die Geltungsfrage des Hirntodkonzepts von der Frage nach den konkreten Nutzenerträgen durch die moderne Transplantationsmedizin systematisch zu unterscheiden sei.
So materialreich der Sammelband durch die Vielfalt an disziplinären Perspektiven auch ist, lassen doch manche Beiträge den Bezug zum Leitthema vermissen: So geht es in Gabriela Killánovás Beitrag zum Wandel von Bestattungsritualen in der Slowakei nur vordergründig um eine Analyse der Bestattungskultur, primär gilt ihre Aufmerksamkeit dem Nachweis post-sozialistischer Transformationsprozesse im Einflussbereich von Kirche und Staat. Und Terry Eagleton will mit dem Tod als 'Non-being' gleich die Wurzel allen Übels in der Welt entlarven. Leider lässt sein Versuch, die Selbstmordattentate unserer Zeit mit der 'bösen Natur' der Frau, den Gaskammern von Auschwitz sowie den Philosophien Pascals, Heideggers und Merleau-Pontys auf neun Seiten in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen, die aufmerksame Leserin eher verwirrt als informiert zurück.
Orientierungslosigkeit stellt sich jedoch auch beim Durchblättern des Bandes ein, was zuvorderst einem Mangel an Konzeption geschuldet ist. Die Fülle an teils sehr disparaten Themen und methodischen Zugriffen lässt einen roten Faden bereits beim Sichten des Inhaltsverzeichnisses vermissen, das die Beiträge nicht thematisch, sondern alphabetisch nach AutorInnennamen ordnet.
Insofern ist der Anspruch des Bandes, einen Beitrag zur 'Diskussion des Todesverständnisses der Gegenwart' zu leisten, sowie Anregungen zur 'Bewusstseins- und Willensbildung' zu geben, nur mit Einschränkungen eingelöst. Wer sich von einer vielseitigen und kenntnisreichen Materialsammlung inspirieren lassen möchte, dem sei dieser Band empfohlen. Eine systematische Darstellung oder gar diskursiv angelegte Vertiefung einzelner Problembereiche wird nicht geboten. Dabei wäre eine Systematisierung oder inhaltliche Fokussierung gerade bei einem Thema wie diesem ratsam, lassen sich doch nahezu alle Bereiche unseres Lebens, unserer Kultur und Gesellschaft immer auch unter der Perspektive des Todes thematisieren.