Ambivalenzen des Todes
Wirklichkeit des Sterbens und Todestheorien heute

Das spannungsvolle Verhältnis von Theorie und Wirklichkeit ist ein alter Topos. Gerät der Zusammenhang aus dem Blick, dann droht die Wirklichkeitsbeschreibung blind, die Theoriebildung ideologisch zu werden. Petra Gehring, Maxine Saborowski und Marc Rölli sehen diese Tendenz in der gegenwärtigen Todesforschung am Werk, der, so die HerausgeberInnen, eine bedenkliche Arbeitsteilung zu eigen ist: Die einen suchen das 'Wesen' des Todes und dessen Sinn begrifflich zu fassen, ohne zu wissen, was im heutigen Sterbealltag tatsächlich passiert, die anderen interessieren sich für die faktischen Prozesse und Institutionen des Sterbens, ohne sie in einen kritischen Zusammenhang integrieren zu können.

Um diese missliche Lage zu überwinden, bedarf es einiger dialogischer Anstrengungen und eines kritischen Auges. Dieser Sammelband zeugt von beidem. Er bringt philosophische Todestheorien, sozialwissenschaftliche Forschungen und Überlegungen aus der pflegerischen Praxis in der Weise miteinander ins Gespräch, dass eine unsichtbar gewordene 'Wirklichkeit des Sterbens' wieder in den Blick gerät. Diese kann sodann zum kritischen Prüfstein einer abstrakten Sterbepolitik werden, die sich einseitig auf Problemlösung und institutionelle Entscheidungsverfahren konzentriert, anstatt auf konkreter Erfahrung zu fundieren.   
In drei großen Blöcken werden die Themen Tod und Sterben auf unterschiedlichen Ebenen ausgeleuchtet und einzelne Problemfelder je nach disziplinärem Zugriff variiert.

Der erste Abschnitt ist soziologischen Perspektiven gewidmet. Werner Fuchs-Heinritz zeigt in seinem Beitrag auf, dass sich die Soziologie bis heute einer tiefer gehenden Analyse des Umgangs mit dem Tod verwehrt. Die Beiträge von Peter Fuchs und Reimer Gronemeyer bezeugen entgegen dieser Selbstkritik die methodischen Stärken ihres Faches: Analysiert der eine aus systemtheoretischer Perspektive die Unterscheidung Leben/Tod, so entlarvt der andere vor dem Hintergrund kritischer Sozialforschung heutiges Sterben als 'Managementaufgabe', die wie jedes Management an die Wahrung ökonomischer Interessen gebunden ist.

In dem als 'Wirklichkeitsfelder' überschriebenen zweiten Abschnitt des Bandes wird der Fokus auf die Mikroebene sozialer Systeme und individueller Entscheidungen gerichtet. Der durch teilnehmende Beobachtung und Diskursanalyse geschärfte Blick macht das Sterben als eine Lebenslage sichtbar, die von vielfältigen Abhängigkeitsstrukturen, körperlicher Ausgesetztheit und Heteronomie gezeichnet ist. Vor diesem Hintergrund befürchtet Martin Schnell, dass die Programmatik eines autonomen Sterbens, wie es heute durch Patientenverfügungen propagiert wird, den Einzelnen in unzumutbarer Weise in eine selbst verantwortete 'Sterbeplanung' zwingt. Stefan Dresske beobachtet, dass das 'gute' und 'natürliche' Sterben im Hospiz gerade dort am ehesten realisiert ist, wo der Sterbeprozess am wirksamsten medikamentös und sozial kontrolliert wird.
Auf diese Wirklichkeit sollten sich sowohl normative Regelungen als auch Theoriebildung beziehen ' so der einhellige Imperativ, der aus diesem Band spricht. Das philosophische Vokabular, das diesen Wirklichkeitbezug sichern soll, sehen die AutorInnen des dritten Abschnitts vor allem durch Denker wie Foucault, Levinas und Derrida vorbereitet. So entlarvt Petra Gehring die Implementierung des Autonomiebegriffs in den gegenwärtigen Sterbehilfediskursen als ideologisierende Strategie einer biopolitischen Macht. Und Marc Rölli weist Heideggers Todeskonzept einen heroischen Individualismus nach, der unter Vorspiegelung von Authentizität die faktische Abhängigkeit und erfahrbare Sinnlosigkeit des Sterbens, sowie die Bedeutung von Trost und Trauer verschleiere.

Widerständigkeit und Kontrollierbarkeit, Heteronomie und Autonomie, Unverfügbarkeit und Machbarkeit ' es sind diese Ambivalenzen, die Tod und Sterben heute charakterisieren. Ambivalenzen, die durch die Schlagwörter 'Todesverdrängung' versus 'Enttabuisierung' längst nicht mehr hinlänglich begriffen werden können. Die vorliegende Aufsatzsammlung gibt ihnen eine differenzierte Sprache. Sie macht die ausgegrenzten und gesellschaftlich verwalteten Aspekte des Todes sichtbar und damit einer Theoriebildung und Kritik zugänglich. So liefert der Band nicht nur einen inhaltlichen Beitrag zur Diskussion des gegenwärtigen Todesverständnisses, sondern verweist performativ auch darauf, wie dieser Diskurs sinnvoll gestaltet werden kann.