Erde und Blut
Völkermord und Vernichtung von der Antike bis heute

Zwar ist die Ächtung von Völkermord nunmehr Bestandteil des Völkerrechts, doch viel Hoffnung kann man wohl doch nicht in die vermeintlichen Errungenschaften der Zivilisation oder in ein immer griffigeres Völkerrecht inklusive eines erst 2002 ins Leben gerufenen Internationalen Strafgerichtshofs setzen. Völkermorde, das zeigt nicht zuletzt Ben Kiernans voluminöse Studie, hat es immer gegeben ' lange bevor sie auch so genannt wurden ' und wird es wohl zumindest noch lange Zeit immer wieder geben.
Entsprechend weit spannt Kiernan den zeitlichen Bogen von der Antike, der Landnahme Spaniens in Mittel- und Südamerika über den Siedlerkolonialismus in Nordamerika, Australien und Afrika bis hin zu den Genoziden des 20. Jahrhunderts im deutsch besetzten Europa, in der Sowjetunion, in Ostasien, China, Kambodscha und Ruanda. Die vergleichsweise geringe Gewichtung des Völkermords der Nationalsozialisten an den Juden aber wird hierzulande wohl eher gewisse Irritation hervorrufen.
Kiernan, Historiker und Gründungsdirektor des 'Genocide Studies'-Programms an der Yale University, teilt die eingangs geäußerte Skepsis des Rezensenten nicht. Er ist vielmehr der Auffassung, die Identifikation von gemeinsamen Merkmalen in genozidalem Denken erleichtere präventives Handeln gegen Völkermorde. Er selbst bietet vier Grundmerkmale an, die seit dem 15. Jahrhundert immer wiederkehrten: Hass auf andere Rassen oder Religionen, eine Überhöhung einer vermeintlich idealen Vergangenheit, die Idealisierung der (eigenen) Landwirtschaft und schließlich ein daraus abgeleiteter Expansionsdrang.
Eine gewisse Schwäche des Buches liegt allerdings genau darin: Kiernan geht nicht immer offen vor, sondern durchzieht die Jahrhunderte mit diesen Grundmerkmalen im Gepäck, macht sie in den Fallbeispielen aus und arbeitet sie heraus. Dabei ist natürlich der Blick etwas verengt, bzw. er spitzt bewusst zu, lässt aber andere Faktoren in den Hintergrund treten. Doch um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht nicht alles in einer unterschiedslosen Kette von Völkermorden auf, Kiernan legt durchaus eine differenzierte Darstellung vor. Die Ermordung der europäischen Juden zum Beispiel sieht er durchaus als einen in vielerlei Hinsicht einzigartigen Fall von Völkermord an. Überdies behandelt er seine Merkmale nicht als ein starres Schema, sondern sieht beispielsweise Verschiebungen und verschiedene Gewichtungen im Laufe der Jahrhunderte am Werk. Während also das Expansionsstreben gepaart mit der Vorstellung von einer natürlichen Überlegenheit bei den Massentötungen der Spanier in Mittel- und Südamerika eindeutig im Vordergrund standen, erhielten bei anderen historischen Fällen andere der vier Merkmale eine höhere Bedeutung. Ob aber auch Al-Kaida in die Reihe aufzunehmen ist, so wie Kiernan es letztlich tut, sei dahingestellt und dürfte noch für manche Diskussion sorgen.
Kiernan liefert einen materialgesättigten Überblick über Massentötungen in der Geschichte, bietet einen insgesamt doch überzeugenden, aber noch nicht hinreichenden Erklärungsansatz und erweitert den völkerrechtlich geprägten Genozidbegriff. Trotz des Inhalts und des Umfangs ein gut lesbares und anregendes Buch.