Zwischen Einladung und Ausweisung
Deutsche bäuerliche Siedler im Königreich Polen 1815-1915

Severin Gawlitta unternimmt den ambitionierten Versuch, die Migrations- und Siedlungsgeschichte der Deutschen zu schreiben, die im Königreich Polen ansässig waren, bis die russische Miiltärführung sie 1914/15 aus dem umkämpften Gebiet deportierte. Er fragt im Sinne zentraler Problemstellungen der Migrationsforschung nach Ursachen und Folgen der Wanderung, nach Abläufen und Formen der Niederlassung und Etablierung der Zuwanderer in der Aufnahmegesellschaft, und er will dies für die Kolonisten im Zusammenhang theoretischer und praktischer Modernisierungsbestrebungen polnischer Grundherren und Regierungen verorten sowie um den Sachverhalt der Weiter- und Rückwanderung ergänzen. Sein Ansatz ist sozial- und wirtschaftshistorisch, doch wählt er auch politik- und kulturhistorische Zugänge (S. 4, 14).
Konkret beschreibt Gawlitta den Prozess der Einwanderung bzw. Ansiedlung und die wirtschaftliche Entwicklung der Kolonien, um sich dann einzelnen Lebensbereichen der Siedler zuzuwenden, deren Auswahl  ' 'Bethaus, Schule und Schänke' ' partiell die Quellen diktiert haben. Ein weiteres Kapitel widmet er dem Verhältnis zwischen deutschen Siedlern und ihren polnischen Nachbarn (jüdische kommen nur selten vor), was auf eine Untersuchung von Assimilations- bzw. und Akkulturationsprozessen und ihrer Hemmnisse hinausläuft. Abschließend behandelt Gawlitta die 'deutsche Frage' in Polen aus der Sicht Sankt Petersburgs und das faktische Ende der deutschen Kolonien infolge des Kriegsgeschehens.
Deutlich wird, dass die Migration der Deutschen nach Polen ökonomisch motiviert war. Dies galt für die Siedler selbst, aber auch für polnische staatliche Stellen und private Grundbesitzer, die ihre Güter mit Hilfe der Kolonisten intensiver bewirtschaften bzw. durch den Zuzug von Fachkräften entwickeln wollten. Den Erfolg der Kolonien misst Gawlitta an der Dauer ihres Bestehens, ihrer wirtschaftlichen Entwicklung und nicht zuletzt an der sozialen Kohäsion ihrer Bewohner. Das bessere Zeugnis stellt er den Siedlungen aus, die auf Initiative privater Grundbesitzer zustande kamen, da diese die vorteilhafteren Konditionen anboten (S. 59).
Die Darstellung des religiösen Lebens, das über Pastoren bzw. Kantoren eng mit dem rudimentär zu nennenden Bildungswesen der Kolonisten verflochten war, fällt detailliert aus und liest sich weitgehend als eine Geschichte infrastrukturell bedingter Defizite: Lange Wege zwischen Gemeindezentrum und entfernten Siedlungen, aber auch die fehlende Qualifikation des Kirchenpersonals erschwerten Seelsorge und Bildungsbemühungen, was wiederum Aberglauben, Sektierertum und Alkoholismus unter den Kolonisten begünstigte.
Deren Schulwesen war für die zarische Zentralmacht ein Mittel, um einer unerwünschten Polonisierung der Deutschen entgegenzuwirken (S. 258). Dass diese eher ein städtisches Phänomen war und auf dem Land kaum zu beobachten war, stellt Gawlitta ebenso dar wie die Spannungen, die sich aus der privilegierten Stellung der Siedler und dem aufkeimenden polnischen Nationalismus ergaben. Der Rückhalt, den die Kolonisten in Sankt Petersburg lange genossen hatten, schwand am Ende des 19. Jahrhunderts mit der auch auf sie abzielenden Russifizierungspolitik. Der Verdacht der Illoyalität, dem die Siedler ausgesetzt waren, wurde ihnen 1914 zum Verhängnis, denn die russische militärische Führung drängte nun auf ihre Deportation, die Gawlitta in ihren komplexen Zusammenhängen und Motivationen akribisch rekonstruiert. Ohne seine Arbeit werden künftige Forschungen zu den 'Weichseldeutschen' nicht auskommen.