Nationalsozialistischer Sprachstil
Theoretischer Zugang und praktische Analysen auf der Grundlage einer pragmatisch-textlinguistisch orientierten Stilistik

Das Buch besticht unter den Neuerscheinungen zum Thema 'Sprache im Nationalsozialismus' durch geschichts- wie sprachwissenschaftliche Literaturkenntnis, Methodensicherheit, hohen Reflexionsgrad und praktischen Anwendungsbezug. Es ist das Buch zum Thema, auf das man auch deswegen schon immer gewartet hat, weil es den Studierenden alle textanalytischen Methoden vorführt, die nötig sind, den Sprachgebrauch während des Nationalsozialismus oder vergleichbarer Epochen zu untersuchen. Bereits der Untertitel weist dem Leser bereits den Weg, wie dies gelingt: mithilfe einer 'pragmatisch-textlinguistisch orientierten Stilistik'.
Das Überraschende an diesem Zugriff ist weniger, dass Braun nationalsozialistische Texte handlungsorientiert analysiert, stilistische, textlinguistische und pragmatische Methoden miteinander kombiniert oder dass er die Stilistik mit dieser Untersuchung zu neuen Ehren führt. Das eigentlich Überraschende ist, dass er es in dieser Kombination und mit dieser Ausführlichkeit als erster getan hat. Sein Ziel war 'die Entwicklung eines operablen Schemas, das die Deskription und weiterführende Analyse nationalsozialistischen Sprachgebrauchs 'im weitesten Sinne' ermöglicht' (S. 7). In einer ausführlichen, nahezu die Hälfte des Buches ausmachenden Einführung in stilistische und textlinguistische Theorien und Methoden umreißt Braun eine prototypische Kategorie 'NS-Stil' 'als Resultat der wiederholten Auswahl bestimmter Merkmale ', wobei nicht immer dieselben und nicht alle Merkmale gleichzeitig in einem Text realisiert sein müssen' (S. 141). Diesen Prototyp, den er mit Wittgensteins Konzept Familienähnlichkeit (S. 139) begründet, stellt er dann nicht nur ausführlich in seinen einzelnen (lexikalischen, wortbildungsmorphologischen und syntaktischen) Merkmalen vor, sondern entwickelt daraus auch einen sowohl reflektierten wie anwendbaren Analyseapparat (275ff.). Besonders überzeugend ist, dass Braun in diesem Werkzeugkasten neben den altbekannten satzsemantischen, textlinguistischen und politolinguistischen Instrumenten (Subjektschübe, Textfunktionen, Schlagworten, Metaphern, Begriffe-Besetzen usw.) auch die Illokutionstrukturen, Implikaturen und Präsupposition (wieder) entdeckt und aufgenommen hat (S. 208). Der für den NS-Stil als typisch postulierte Nominalstil kann so funktional und damit adäquater erklärt werden. Braun schreibt (S. 25): 'Aus pragmatischer Perspektive lässt sich die Funktion von Substantivierungen jedoch weitaus präziser fassen: Referentiell gebraucht lösen sie Existenzpräsuppositionen aus, die bezeichnete Entität bzw. der referierte Sachverhalt wird als 'gegeben', als wahr vorausgesetzt. Und wenn Unsicheres oder Zweifelhaftes dergestalt versprachlicht wird, kann dies wiederum Teil einer argumentatorischen Strategie sein: Durch die Art und Weise, wie eine Proposition versprachlicht wird, liefert der Stil oft erst die Argumente und kann auf diese Weise die Appellfunktion des konkreten Textes stützen ' vorausgesetzt, der einzelne zeitgenössische Rezipient hat das Präsupponierte akzeptiert und nicht hinterfragt.' Im zweiten, praktischen Analyseteil wendet Braun seinen Apparat auf Textbeispiele ausgewählter 'bester / zentraler Modelle' (Hitler, Goebbels, Rosenberg) an, deren Vorbildfunktion er für die ebenfalls untersuchten Texte der sekundären Modelle (Göring, Ley) und der daran anschließenden Pressetexte (Völkischer Beobachter, Frankfurter Zeitung, Münchner Neueste Nachrichten) nachweist.
Dass der Verfasser die Analysemethoden der modernen Linguistik anzuwenden weiß, ist deutlich geworden. Doch Braun weist auch daraufhin, dass diese Analyseergebnisse ohne die kompetente Kenntnis der sprachgeschichtlichen Situation nicht bewertet werden können. Im Zusammenhang mit seinen Erörterungen zu 'Stil als Abweichung', stellt er etwa fest, dass das ebenfalls als typisch für den NS-Stil stehende Merkmal 'Sakralsprache' damals durchaus üblich war, während es nur aus heutiger Sicht ungewöhnlich wirkt (vgl. S. 43). Die rezeptionsorientierten Folgerungen sind entsprechend. Anders als frühere, recht isolierte Betrachtungen betont der Verfasser außerdem immer wieder, dass ein (S. 228) 'nationalsozialistischer Stil ' nur unter Rückgriff auf sprachliche Tendenzen betrachtet werden [kann], die lange vor Gründung der NSDAP ihren Anfang genommen hatten und die zum größten Teil auch nicht ideengeschichtlich in deren direktem Umfeld zu suchen sind.' Genannt werden völlig zu Recht die nationalsozialistischen 'Stichwortgeber' (S. 227) Richard Wagner, Houston Stewart Chamberlain, Joseph Arthur Comte de Gobineau, Paul de Lagarde. Mit der Untersuchung eines solchen antisemitischen Prä-Textes, einer Rede des Österreichers Georg Ritter von Schönerer, wird die eingeforderte historische Kontextualisierung beispielhaft vorgenommen.
Zu jeder Rezension gehört auch etwas Kritisches. So verwundert es ein wenig, dass Braun bei der Textebene verharrt, obwohl er z.B. im Hinblick auf die Metaphernkonzepte eigentlich ja auch die herrschenden Diskurse im Blick hat. Braun hätte außerdem explizit auf allgemeine ideologischen Strategien eingehen können wie die Historisierung, Naturalisation, Universalisierung usw. Auch der eingeführte Ideologiebegriff (S. 5; 217f), vor allem in seiner Verbindung mit der Definition von 'Propaganda als ideologischer Kommunikation', hätte diskutiert werden können, um der Gefahr zu entgehen, dass sich bei aller Offenheit der Definition unterschwellig wieder die Vorstellung einschleicht, Ideologie sei falsches Bewusstsein (Marx), wo doch 'Ideologie' übiquitär ist. Oder anders ausgedrückt: Sind wir denn nicht alle ideologisch?
Bei einem Buch mit einer solchen Fülle an Überlegungen gibt es sicherlich Einiges, das man anders sehen könnte, einiges, das man anders interpretiert hätte und auch das Eine oder Andere, womit man nicht einverstanden ist. Wäre es nicht so, wäre es kein gutes Buch. Und dass es ein solches ist, wurde eingangs bereits festgestellt.