Vom Recht zur Geschichte
Akten aus NS-Prozessen als Quellen der Zeitgeschichte

Kaum eine zeitgeschichtliche Arbeit kommt heutzutage noch ohne Akten aus NS-Prozessen aus. Das gilt umso mehr, als die Prozesse und Ermittlungsverfahren selbst verstärkt zum Forschungsgegenstand werden. Viele Ereignisse und Abläufe aus dem Bereich der NS-Gewaltverbrechen ließen sich ohne Auswertung der Justizakten schlichtweg nicht untersuchen, da die Täter es vielfach vermieden, Spuren ihrer Taten zu hinterlassen.
Der vorliegende Band, hervorgegangen aus einer Tagung in Augsburg, nimmt dies zum Anlass, die Möglichkeiten und Grenzen von Prozessakten als Quellen der Zeitgeschichte auf einer gesicherten empirischen Basis auszuloten und einen praxisorientierten Leitfaden anzubieten. Daher richtet sich das Buch in erster Linie, aber nicht nur, an Studierende und Doktoranden, die zu diesem Themenbereich arbeiten wollen und auf die Justizquellen zurückgreifen. Eine solche Einführung in diese spezifische Quellengattung war bislang ein Desiderat.
Die Herausgeber haben die Beiträge in vier große Bereiche eingeteilt. Zunächst vermitteln mehrere Aufsätze die institutionellen Grundlagen und historischen und gesellschaftspolitischen Hintergründe der NS-Prozesse, angefangen von den Nürnberger Prozessen, über Verfahren in den vier Besatzungszonen bis 1949 bis hin zum österreichischen und italienischen Beispiel.
Im zweiten Abschnitt richten die Verfasser den Blick direkt auf die Quellen und erörtern die zentralen methodischen und quellenkritischen Fragen, die diese aufwerfen. Überdies werden die Entstehungsbedingungen, die Archivierung und Überlieferungsbedingungen sowie mögliche Ersatzüberlieferungen sehr informativ dargeboten. Zudem demonstrieren manche Autoren das vielfach bislang ungenutzte Potential dieser Quellengattung für die Untersuchung kulturgeschichtlicher Fragestellungen wie etwa der nach dem Alltag und sozialen Umfeld der Besatzer im Osten oder nach der Öffentlichkeit der Massenverbrechen.
Der 'Forschungspraxis: vom Finden der Quellen' widmen sich die Beiträger des dritten Blocks, allesamt Praktiker aus den Archiven oder einschlägigen Editionsprojekten. Hier erfährt der Leser Wissenswertes über die archivgesetzlichen Grundlagen der Benutzung der Akten, mithin von der Gratwanderung zwischen dem Schutz von Persönlichkeitsrechten auf der einen und der Freiheit von Wissenschaft und Forschung auf der anderen Seite. Außerdem informieren die Aufsätze über die zentralen Archivbestände etwa in Ludwigsburg oder über grundlegende Editionen wie die der Urteile aus den NS-Prozessen, die bereits in den sechziger Jahren begonnen worden ist. Abgerundet ist der Band durch eine umfangreiche Linkliste und Bibliographie.
Herausgekommen ist so ein überaus nützliches Kompendium, das die Arbeit mit den Akten der NS-Prozesse und Ermittlungsverfahren auf eine solide Grundlage stellt, den Blick für Quellenkritik schärft und auf neue Forschungsfelder hinweist. Es ist zu wünschen, dass von dieser Publikation Impulse in Forschung und vor allem auch Lehre ausgehen, mit dem Material kritisch und gewinnbringend zu arbeiten. Der verhältnismäßig hohe Preis aber wird wohl leider die meisten Studierenden davon abhalten, diesen Band zu erwerben.