Wann wohl das Leid ein Ende hat
Briefe und Gedichte aus Theresienstadt

Ich wandre durch Theresienstadt,
das Herz so schwer wie Blei,
bis jäh mein Weg ein Ende hat,
dort knapp an der Bastei.

Dort bleib ich auf der Brücke stehn
und schau ins Tal hinaus:
Ich möchte so gerne weitergehn,
ich möchte so gern ' nach Haus!

'Nach Haus!' ' du wunderschönes Wort,
du machst das Herz mir schwer,
man nahm mir mein Zuhause fort,
nun hab ich keines mehr.

Ich wende mich betrübt und matt,
so schwer wird mir dabei,
Theresienstadt, Theresienstadt
' wann wohl das Leid ein Ende hat '
wann sind wir wieder frei?

Ilse Weber durfte nicht mehr nach Hause und sie kam auch nicht frei. Die Autorin des Gedichts 'Ich wandre durch Theresienstadt' wurde 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Sie hatte in Theresienstadt als Kinderkrankenschwester gearbeitet und sich freiwillig zur Deportation gemeldet, da sie ihre Schützlinge nicht im Stich lassen wollte. Auch ihr jüngster Sohn Tommy wurde ermordet, ihr Mann Willi überlebte und konnte später die versteckten Gedichte seiner Frau bergen. Ilse Weber, die deutschsprachige Jüdin aus Witkowitz bei Mährisch-Ostrau, hat zeit ihres Lebens geschrieben. Ende der 1920er Jahre erschienen bereits Kinderbücher von ihr, noch unter ihrem Mädchennamen Ilse Herlinger.
Ulrike Migdal hat nun Briefe Ilse Webers seit 1933 sowie ihre Gedichte und Lieder aus Theresienstadt veröffentlicht und mit einem ausgezeichneten Text zu Ilse Webers Biographie und ihren Texten versehen. Die Briefe sind an ihre Freundin Lilian in England und Schweden und deren Mutter in Schweden gerichtet, seit 1939 aber vor allem an ihren Sohn Hanu¨, der mit einem Kindertransport nach England geschickt werden konnte.
Auf abenteuerlichen Wegen wurden die Gedichte gerettet und die Briefe wieder entdeckt, und es ist ein großes Glück, dass die überaus eindrucksvollen Texte nun zusammen ediert vorliegen. Die Briefe, die Ilse Weber zunächst aus Witkowitz, dann seit Dezember 1940 aus Prag schrieb, zeigen in beklemmender Weise, wie die Situation für Juden in der Tschechoslowakei schwieriger, dann im Protektorat Böhmen und Mähren immer unerträglicher wurde. Wandten sich anfangs alte Bekannte von ihr ab, musste die Familie Weber dann aus ihrer Wohnung in ein kleines enges Zimmer umziehen, um schließlich im Frühjahr 1942 nach Theresienstadt deportiert zu werden. Die Briefe zeigen Ilse Weber aber auch als eine überaus intelligente Schreiberin, die über das schwierige Beziehungsgeflecht von Deutschen, Tschechen und Juden in ihrer Heimat nachdenkt.

Diese Heimat Ilse Webers: Vor gut 70 Jahren, am 30. September 1938, unterzeichneten Großbritannien, Frankreich, Italien und das Deutsche Reich das 'Münchner Abkommen'. Die Tschechoslowakei war zerschlagen, das Sudetenland dem Deutschen Reich zugehörig und Konrad Henlein wurde am 1. Oktober von Hitler zum Reichskommissar für die sudetendeutschen Gebiete erklärt. Alle 'Gegner' und damit auch die Juden waren von Anfang an brutaler Verfolgung ausgesetzt, Höhepunkt war auch im Sudetenland der Novemberpogrom. Eine Massenflucht der jüdischen Bevölkerung begann, mindestens die Hälfte der gut 30.000 Juden, die hier zuvor gelebt hatten, floh bis Dezember 1938 in die innerböhmischen Gebiete. Doch auch in der Tschecho-Slowakei, wie der verkleinerte Staat nun vorrübergehend hieß, um die slowakische Eigenständigkeit zu betonen, verschlechterte sich die Situation für Juden zusehends, vor allem die deutsch sprechenden Juden wurden an den Rand gedrängt.
Am 15. März 1939 marschierten dann deutsche Truppen in Prag ein, Präsident Emil Hácha war zuvor in Berlin von Hitler genötigt worden, ein Abkommen darüber zu unterzeichnen (gemeinsam mit dem deutschen und dem tschechoslowakischen Außenminister), dass er das Schicksal der Tschechen 'in die Hände des Führers' lege. Das erste Gebiet mit einer nichtdeutschen Bevölkerungsmehrheit war damit in die Hände Nazi-Deutschlands gefallen. Am 16. März 1939 verlas Reichsaußenminister Ribbentrop den Erlass über die Bildung des Protektorats Böhmen und Mähren im Rundfunk, Hitler war an diesem Tag in Prag. Reichsprotektor wurde zunächst Konstantin Freiherr von Neurath.

Peter Demetz beschreibt, nach der Schilderung dieser Vorgänge, wie er selbst diese Märztage erlebte. Sie begannen für ihn mit dem Ausruf eines Unbekannten: 'Herr Pol(l)ak, hängen S´ die Fahne raus, die Daitschn sind da.' Der Germanist verwebt eine allgemeine Geschichte Prags und des Protektorats mit seinen eigenen Erinnerungen, durch ein anderes Schriftbild wird dem Leser vor Beginn der Lektüre eines jeden Kapitels angezeigt, ob nun eine weitgehend auf Literatur beruhende Darstellung oder das eigene Erleben folgt. Demetz galt nach der nationalsozialistischen Rassengesetzgebung als 'Mischling', seine Mutter war Jüdin; sie wurde am 23. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie ein knappes Jahr später verstarb. Das sehr persönliche und bewegende, gleichzeitig sehr kluge Buch setzt dabei nicht nur der eigenen Familie ein literarisches Denkmal, sondern Demetz erzählt beispielsweise auch vom Schicksal des Dichters Jiři Orten oder der Journalistin Milena Jesenská, die vielen vor allem als Freundin Franz Kafkas bekannt ist.

Eva Mändl Roubíčková lebt heute in Prag, sie entstammt einer jüdischen Familie, deren Muttersprache Deutsch war. Im Vorwort ihrer von Veronika Springmann herausgegebenen und mit recht knappen Anmerkungen versehenen Tagebuchaufzeichnungen aus Prag und Theresienstadt beschreibt sie die Situation in ihrer Heimatstadt ´atec (Saaz), die damals zum Sudetengebiet gehörte, kurz vor dem September 1938: 'Hitler sprach jede Woche im Radio, seine Reden wurden auf die Straße übertragen, und nach jeder dieser reden marschierten Männer auf der Straße, riefen antisemitische Hassparolen und warfen Steine gegen die Fenster jüdischer Wohnhäuser und Geschäfte' (S. 8). Ihre Familie und sie reisten kurz vor dem Münchener Abkommen nach Prag, wo sie aufgrund der veränderten politischen Situation dann blieben. Hier beginnen im Jahre 1941 ihre Tagebücher, die sie fortsetzt, nachdem sie Ende des Jahres nach Theresienstadt deportiert worden ist. Sie  notiert an diesem Tag, dem 17. Dezember, 1941: 'Das alles ist so seltsam, dass man es einfach nicht versteht. Gott sei Dank, denn wenn man das alles völlig begreifen würde, könnte man verrückt werden' (S. 71). Das Theresienstädter Tagebuch umfasst die Zeit von Dezember 1941 bis zum 5. Mai 1945, also nahezu den gesamten Zeitraum, in dem das Getto bestand.
Das Tagebuch von Eva Mändl Roubíčková verdeutlicht die Lebensbedingungen im Getto, den Terror, die ständige Angst vor einer Deportation 'in den Osten': Theresienstadt war für viele eine Durchgangsstation auf dem Weg in die Vernichtung. Am 8. Januar 1942 schreibt sie: 'Neun Leute, die wegen Briefschmuggel eingesperrt wurden, sind gehängt worden. Juden mussten das Urteil vollstrecken. Überall Verzweiflung.' Und immer wieder berichtet sie von Transporten, die das Lager verlassen mussten, von der damit verbundenen Angst und Unsicherheit. Außerdem gibt das Tagebuch aber auch Einblicke in das 'Alltagsleben' im Getto, in die Bedingungen, unter denen Menschen gewohnt und gearbeitet haben, in die sozialen Konflikte, die es unter den Eingeschlossenen gab und in die verschiedenen Versuche, sich selbst zu helfen, unter den von außen aufgezwungenen Bedingungen trotzdem ein Leben zu leben. Sie berichtet auch von Freundschaften und davon, wie sie unter höchster Gefahr Lebensmittel schmuggelt, die ihr ein 'Arier' besorgt. Im Oktober 1944 wurden ihre Eltern deportiert, danach ist sie eine Zeit lang nicht mehr fähig, Tagebuch zu schreiben, berichtet über die folgenden Wochen in einem Rückblick. Von Januar 1945 an sind ihre wieder aufgenommenen Einträge verändert: Sie protokolliert nur mehr knapp das Geschehen, schreibt keine Gefühle mehr auf. Ihren Mann Richard traf sie nach der Befreiung wieder. Die beiden hatten vor dem Krieg geheiratet, er konnte nach Großbritannien emigrieren, sie hatte jedoch kein Visum bekommen. Er ist häufiges Thema in den Aufzeichnungen und er ist es auch, dem sie in den sechziger Jahren auf seine Anregung hin das in Gabelsberger Kurzschrift geschriebene Tagebuch diktierte. Doch dauerte es lange, bis der Text veröffentlicht wurde: Eine englische Übersetzung erschien 1998, und nun liegt endlich auch das deutsche Original publiziert vor.

Den historischen Hintergrund all dessen beleuchtet Marc Oprach in seiner Hamburger Dissertation über die Judenverfolgung im Protektorat Böhmen und Mähren. Allerdings verwundert direkt der erste Satz, der die Bildung des Protektorats ein Jahr 'vorverlegt': 'Mit der Besetzung des tschechoslowakischen Staates im Jahr 1938 wurden die Juden des neu gegründeten 'Protektorats Böhmen und Mähren' zu Opfern der nationalsozialistischen Judenpolitik' (S. 7). Auf etwa 180 Seiten Text will der Autor die Judenpolitik im Protektorat mit den ihr zu Grunde liegenden Entscheidungen analysieren und in einen europäischen Zusammenhang setzen. Das gelingt nur bedingt, häufig bleibt die Untersuchung zu knapp, werden zentrale Fragen nur oberflächlich analysiert, auch liegen, gerade wenn der Autor die Entwicklung mit anderen Regionen und Orten vergleicht, mitunter recht ungenaue Angaben vor. Die von Oprach selbst eingeforderte jüdische Perspektive bleibt eher blass. Auch sprachlich kann die Untersuchung über weite Strecken nicht überzeugen. Die Arbeit kann aber sicherlich als Ausgangspunkt gesehen werden: Endlich wurde der längst überfällige Versuch einer deutschsprachigen Gesamtdarstellung der Judenverfolgung im Protektorat Böhmen und Mähren unternommen.

Gefüllt wurde die Lücke indes für den Reichsgau Sudetenland: Jörg Osterloh, inzwischen Mitarbeiter des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt, legt mit der veröffentlichten Fassung seiner Dissertation eine detaillierte und genau recherchierte, auf eine breite Quellenbasis gestützte Darstellung der Judenverfolgung im Sudetenland vor, die ein großes Desiderat behebt und die man getrost als Standardwerk bezeichnen kann. Die auf Erfahrungen im Altreich und Österreich gestützte 'Judenpolitik' im Sudetenland analysiert Osterloh mit einem starken Akzent auf der 'Arisierung' und der leitenden Frage, wer die Beteiligten der Judenverfolgung waren. Handelten diese auf Anweisung aus Berlin oder entwickelte sich eine eigenständige Verfolgungspolitik? Der Verfasser zeigt, wie die im Altreich erprobten Maßnahmen ohne Änderungen (aber viel schneller) auf den Sudetengau übertragen wurden. Die Juden und ihr Vermögen wurden erfasst. Um verschwundene Vermögenswerte der jüdischen Gemeinden zu lokalisieren, wurden häufig Angestellte der Kultusgemeinden vernommen. Die Gemeinden im Sudetengau waren häufig bestrebt, die Gebäude der jüdischen Gemeinden unter Wert vom so genannten Aufbaufonds zu übernehmen, dieses Vorgehen entsprach dem der Kommunen in Österreich. Die Akteure der 'Arisierung' waren im Wesentlichen die gleichen wie im Altreich, es bestand jedoch ein Unterschied: 'Da die 'Arisierung' im Sudetenland ins Werk gesetzt wurde, als die meisten Juden bereits geflohen  und die verbliebenen weitestgehend entrechtet waren, konnten die jüdischen Eigentümer in der Regel nicht mehr in den Verkauf ihres Besitzes eingreifen.' (S. 338) Die Errichtung des Protektorats Mitte März 1939 beeinflusste dann die 'Arisierung' im Sudetenland erheblich, da zahlreiche Unternehmen ihren Sitz in Prag hatten. In diesem Fall war die Verwaltung des Protektorats zuständig.
Ende Juni 1940 lebten nur noch 1886 Juden im Sudetengau. Ihr Schicksal fasst Jörg Osterloh knapp zusammen: 'Die Behandlung der verbliebenen Juden unterschied sich nicht von der 'Judenpolitik' im Altreich. Die Entrechtung und Enteignung wurde zu einem radikalen Ende geführt' (S. 570). Er kann in seiner umfassenden Untersuchung zeigen, dass auch im Reichsgau Sudetenland ein breiter Kreis von Mittätern zur Durchführung der 'Judenpolitik' benötigt wurde und auch bereit stand: 'Die Durchführung der Verbrechen hätte nie gelingen können, wenn nicht wie überall im deutschen Herrschaftsraum regionale Erfüllungsgehilfen mitgearbeitet hätten. Die grundlegenden Entscheidungen hatten freilich andere getroffen' (S. 571).

Einen anderen Akzent setzt Chad Bryant in seiner Studie 'Prague in Black'. Seit März 1939 stand erstmals ein Gebiet unter der Herrschaft des Deutschen Reiches, in dem Deutsche in der Minderheit waren. Und so war das vorrangige Ziel von Anfang an die Germanisierung Böhmens und Mährens; auch in diesem Zusammenhang standen 'Judenpolitik' und 'Arisierung' im Protektorat. Bryant untersucht die Germanisierungsbestrebungen und ihre Auswirkungen vor allem auf die tschechische Bevölkerung und, daraus folgend, den tschechischen Nationalismus. Letzterer habe sich, so seine These, vor allem aufgrund der deutschen Politik im Protektorat überhaupt erst in der Schärfe entwickelt, die dann ' und hier schlägt er den Bogen bis in die Nachkriegszeit ' in einem kollektiven Hass auf alles Deutsche die Legitimation für die Vertreibungen und die Gewalt bei Kriegsende und das Bindeglied zwischen verschiedenen Gruppierungen darstellte. Er untersucht, was Besatzung und Terror mit einer Gesellschaft machen, wie sie sich auf Moralvorstellungen und -wertungen auswirken. Nationalismus und die Festlegungen dessen, wer zur Nation gehören darf und welche Folgen dies hat ('Heydrich [der zweite Reichsprotektor] attacked the 'Jewish problem' with ruthless energy and efficiency, but the 'Czech problem' seemed much more complicated', S. 138), sind für Bryant die Untersuchungskategorien und mit diesem Ansatz gelingen ihm eine spannende Darstellung und eine genaue Analyse.