Novemberpogrom 1938
Die Augenzeugenberichte der Wiener Library, London

Pünktlich zum siebzigsten Jahrestag der 'Reichskristallnacht' 1938 liegt mit diesem Buch eine Edition von Augenzeugenberichten vor, von der man sich fragt, warum es sie nicht schon viel früher gegeben hat. Der gemeinsam von der Londoner Wiener Library, dem dortigen Leo-Baeck-Institut und dem Jüdischen Museum in Frankfurt am Main herausgegebene Band präsentiert einer breiteren Öffentlichkeit erstmals 356 Augenzeugenberichte vornehmlich zur 'Reichskristallnacht', die überwiegend in den Wochen unmittelbar danach geschrieben und zusammengetragen wurden.
Alfred Wiener, Namensgeber der an der Herausgabe beteiligten Wiener Library, war von 1918 bis 1933 beim Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens beschäftigt, zuletzt als Syndikus. Von Beginn an widmete er sich publizistisch und in Vorträgen dem Kampf gegen Antisemitismus und die antijüdische Propaganda der Rechten. Im Sommer 1933 gelang ihm die Flucht nach Amsterdam, wo er das Jewish Central Information Office aufbaute, das zahlreiche Berichte über die Lage der Juden in Deutschland verfasste und verbreitete. Wiener erkannte offenkundig früh die Wendemarke, die die Pogromnacht 1938 bedeutete und legte den Grundstein für die nun edierte Sammlung.
Die Edition beruht auf den 356, meist auf deutsch vorliegenden Augenzeugenberichten, die Wiener und seine Mitarbeiter seinerzeit anonymisiert hatten, um die Berichterstatter und erwähnte Personen zu schützen, die sich vielfach noch im deutschen Herrschaftsbereich aufhielten. Diese Anonymisierung nachträglich rückgängig zu machen, ist den Herausgebern nicht vollständig gelungen, zumal es sich bei den Dokumenten oft um Abschriften der nicht mehr überlieferten Originale handelt.
Im Zentrum der Edition stehen Berichte über den Novemberpogrom 1938 und die zahlreichen Verhaftungen und Überstellungen in Konzentrationslager. Überdies versammelt der Band Zeugnisse zu den bereits im Juni 1938 stattgefundenen Massenverhaftungen von Juden, der Ausweisung der polnischen Juden aus dem Reich Ende Oktober 1938, der Verfolgung der Juden in Österreich, das im März 1938 unter großem Jubel der Bevölkerung Teil des Deutschen Reiches wurde, und schließlich der Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung im sogenannten Protektorat Böhmen und Mähren in den Monaten von März bis Juni 1939. Diesen Hauptkapiteln des Buches haben die Herausgeber jeweils eine knappe Einführung vorangestellt.
Die Editoren haben das Schwergewicht der Kommentierung der Texte auf die Identifizierung und Erläuterung der erwähnten Personen gelegt. Unklar bleibt das Prinzip der darüber hinaus gehenden Annotation. Während etwa bei Datumsangaben im Text in der Regel der entsprechende Wochentag in der Fußnote angeführt wird, bleiben andere Stellen, die für heutige Leser einer Erläuterung bedurft hätten, leider unkommentiert wie zum Beispiel die an mehreren Stellen genannten 'gelben Bänke' (z.B. S. 102).
Diese kleinen Mängel im Detail sind jedoch vernachlässigenswert angesichts des großen Gewinns, den diese Edition für die Forschung und für ' hoffentlich zahlreiche ' interessierte Leser bedeutet. Wohl nirgends kann man in so großer Dichte und derart zeitnah entstanden über die antisemitischen Maßnahmen des NS-Staates, über die zahlreichen Diskriminierungen und Zurückweisungen im Alltag und über die Reaktion der Betroffenen darauf lesen.