Die Herrschaft der Wehrmacht
Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941-1944

Lange Zeit blieb die Rolle der Wehrmacht bei den Verbrechen des NS-Regimes und seiner Besatzungspolitik im Schatten. Erst die umstrittene und landauf und landab heftig diskutierte erste Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung schaffte dem Mitte der 1990er Jahre Abhilfe, indem sie wie ein Katalysator für die Forschung wirkte. In ihrer Folge erst wurden zahlreiche Dissertationsprojekte in Angriff genommen und schließlich auch ein großes Forschungsprojekt am Münchener Institut für Zeitgeschichte über 'Wehrmacht in der NS-Diktatur' aufgelegt, dessen Ergebnisse seit kurzem Schritt für Schritt publiziert werden.
Teil des Projekts ist Dieter Pohls Studie über 'deutsche Militärverwaltung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941-1944', zugleich auch Habilitationsschrift an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität. Pohl ist weithin anerkannter Experte für die NS-Massenverbrechen und der Besatzungspolitik in Osteuropa. Zudem verfügt er über umfassende Sprachkenntnisse, die es ihm ermöglichen, etwa die russische oder ukrainische Forschung zu berücksichtigen. Quellen russischer Provenienz nimmt er hier aber leider nicht in den Blick. Das allerdings tut der überragenden Qualität des Buches keinen Abbruch.
Pohl konzentriert sich auf diejenigen Gebiete der besetzten Sowjetunion, die unter der Hoheit der Wehrmacht standen, vor allem die westlichen und südlichen Teile Russlands, deren Erforschung noch in den Kinderschuhen steckt. Er untersucht zentrale Felder der Besatzungspolitik wie Ernährung, Zwangsarbeit, Partisanenbekämpfung, Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, Mord an den Juden, Kriegsgefangene und deren Wirkung auf die Bevölkerung.
Die Besatzungspolitik war nicht im geschichtslosen Raum angesiedelt und fing im Juni 1941 gleichsam bei Null an, sondern ihr gingen Planungen voraus. Vor allem aber spielte sie sich vor dem Hintergrund von länger zurückreichenden Vorprägungen und Erfahrungen ab, seien es stereotype Russlandbilder, Gewalterfahrungen im Ersten Weltkrieg oder in den Freikorpskämpfen oder auch ideologische Dispositionen. Diesen Erfahrungen und Planungen widmet Pohl zwei instruktive Kapitel, um anschließend die Strukturen der Militärverwaltung sowie die einheimische Bevölkerung zu beleuchten, bevor er sich der Besatzungspolitik der Wehrmacht zuwendet.
Pohl bereichert die bisweilen hitzig und überspitzt geführte Debatte um den Grad der Beteiligung der Wehrmacht an NS-Verbrechen um eine empirisch umfassend dokumentierte, nüchtern abwägende und klar urteilende Studie. Mindestens zwei Millionen Menschen starben unter der Besatzung der Wehrmacht, die dafür nicht allein verantwortlich war, deren Anteil daran aber auch nicht gering zu schätzen ist. Die Beteiligung an Verbrechen betraf alle Ebenen der Wehrmacht ' auch die früher ohne empirische Basis davon pauschal ausgenommenen Fronttruppen. Pohl verfällt aber nicht der umgekehrten Versuchung und stuft alle Soldaten als verbrecherisch ein, sondern differenziert: In der Regel hing es davon ab, ob Soldaten in größeren Städten oder in Partisanengebieten eingesetzt waren, ob sie mit jüdischen Gemeinden oder mit Kriegsgefangenen in Berührung kamen etc.
Pohls Studie ist mehr als eine Synthese einer sich spezialisierenden Okkupations- und Wehrmachtsforschung. Es ist eine fundierte empirische Analyse von wegweisendem Charakter.