"Wir sehen uns ins Auge das Leben und ich"
Tagebücher 1895-1910

In der Neuedition der Tagebücher der Fanny zu Reventlow machen es sich Irene Weiser und Jürgen Gutsch zur Aufgabe, auf knapp 600 Seiten eine kritische und kommentierte Ausgabe der Aufzeichnungen dieser bemerkenswerten Autorin vorzulegen. Es handelt sich um eine Revision von ca. 1400 handgeschriebenen Seiten, die im Münchener Literaturarchiv Monacensia gelagert werden. Dabei legen die Herausgeber großen Wert auf die Vollständigkeit des Textes sowie auf eine Überprüfung des Dargestellten in vorangegangen Ausgaben. Grundgedanke ist die Schaffung einer möglichst ursprünglichen Fassung des Werkes.

Man darf sich fragen: Warum diese Neuausgabe, wo doch bereits einige Versionen der Tagebücher vorliegen? (Die letzte erschien 2004 im Rahmen einer Gesamtausgabe 2004 im Igel Verlag) Die Herausgeber betonen zurecht, dass der Text seit der ersten Veröffentlichung von 1925, die die Schwiegertochter der Gräfin, Else Reventlow, besorgt hatte, durch zahlreiche Kürzungen und Auslassungen sowie Namensverschlüsselungen von noch lebenden Personen gekennzeichnet war. In der mit zahlreichen Anmerkungen versehenen neuen Ausgabe soll diesem Mangel nun abgeholfen werden.

Eingeleitet werden die Tagebücher mit einem 20-seitigen Vorwort, in dem die Herausgeber eine kurze Editionsgeschichte und Quellendarstellung präsentieren. Knapp die Hälfte der Einleitung wird der Namensfrage der Gräfin gewidmet. Grund für diese ausführliche Darstellung ist die in der Forschungsliteratur weit verbreitete Verwendung des Vornamens 'Franziska'. Ein Name, der von Else Reventlow bei der Erstausgabe der Tagebücher verwendet und in späteren Studien übernommen wird, für dessen Verwendung es jedoch von Seiten der Gräfin keinen Beleg gibt.

Auf eine historische und biographische Einleitung wird verzichtet, allerdings werden im Rahmen der Fußnoten die einschlägigen biographischen Studien (von Brigitta Kubitschek oder Ulla Egbinghoff) sowie zahlreiche weitere Quellen für eine Kontextualisierung und Erläuterung von Orten, Personen etc. hinzugezogen. Im Folgenden werden die fünfzehn Tagebücher, im Februar 1895 in Hamburg beginnend und mit der Reise nach Paris im Oktober 1910 endend, mit weit reichenden Kommentaren versehen abgedruckt. Dabei zeugen die Aufzeichnungen von dem faszinierenden Leben einer ungewöhnlichen Frau, die durch ihre offene Einstellung zu Erotik und Sexualität ein neues Frauenbild verkörperte und zahlreiche Zeitgenossen, wie beispielsweise Rainer Maria Rilke, Karl Wolfskehl oder Ludwig Klages, beeindruckte. Allerdings erzählen sie sie ebenso von Erschöpfung, Krankheit, Schmerzen, den alltäglichen Sorgen und den dauerhaften finanziellen Problemen, die Fanny zu Reventlow im Gegenzug für ihre Freiheit in Kauf nehmen muss. Zentrales Ereignis in ihrem Leben ist die Geburt ihres unehelichen Sohnes Rolf, ihr 'Göttertier', wie sie ihn nennt. Für sich und ihn hält sie ihre Aufzeichnungen im Sinne eines Gedächtnisprotokolls für ein persönliches Erinnern fest ('ich möchte mir mein eignes Leben u. Bubi seins mit Aufschreiben festhalten', S.92). Da die Tagebücher vermutlich nie für eine Publikation in Betracht gezogen wurden, geben sie mehr Einblick in die Privatperson, als beispielsweise die Tagebücher eines Thomas Mann.

Dabei zeichnet es die vorliegende Ausgabe aus, die ursprüngliche Textversion mit ihren orthographischen Fehlern, der Mehrsprachigkeit (Deutsch, Französisch, Englisch, Griechisch und Italienisch), den privaten Schriftkürzeln und all den von der Autorin vorgenommenen Streichungen und Kommentaren originalgetreu wiederzugeben. Unleserliche Textstellen werden nicht ausgelassen, sondern kenntlich gemacht. Abgeschlossen wird die Ausgabe von einer umfangreichen archivarischen Einordnung der Tagebücher sowie einem ausführlichen Personen- und Ortregister, die ebenfalls von der Genauigkeit und Detailliebe zum Untersuchungsgegenstand zeugen.
Kritisch beurteilen ließe sich allenfalls das Fehlen jedweder Einleitung zur Person. Trotz des bewussten Verzichts auf biographische Umstände, wäre eine Übersicht mit wesentlichen Lebensdaten für eine Orientierung hilfreich gewesen.

Die Herausgeber erreichen ihr selbstgestecktes Ziel, eine vollständige und ursprüngliche Präsentation des Textes vorzulegen, dennoch und liefern damit nicht nur einen Beitrag zur Reventlow-Forschung, sondern machen auf ein seltenes und wichtiges Zeugnis weiblicher Lebensgestaltung um die Jahrhundertwende aufmerksam.