Vom Parteigenossen zum Bundesbürger
Über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten

Für große und langanhaltende Aufregung sorgte ein Vortrag Hermann Lübbes, den er 1983 aus Anlass des fünfzigsten Jahrestages der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Berlin gehalten hatte. Rund ein Vierteljahrhundert danach publiziert Lübbe diesen Text unter dem Titel 'Der Nationalsozialismus im Bewusstsein der deutschen Gegenwart' erneut und ergänzt ihn um eine persönlich gehaltene 'Wirkungsgeschichte einer umstrittenen These'.
Lübbes Grundthese, die für großen Wirbel bereits auf der Veranstaltung gesorgt hatte, lautet, dass in der frühen Bundesrepublik der fünfziger und zum Teil auch sechziger Jahre eine Praxis des 'kommunikativen Beschweigens' vorgeherrscht habe. Beschwiegen wurde vor allem die individuelle 'Verstrickung' in das NS-Regime und seine Verbrechen, wenn gewisse Grenzen nicht überschritten worden seien. Durch diese Praxis, so Lübbe, sei eine Integration der vielen NS-Anhänger in den demokratischen Staat überhaupt erst möglich geworden. Eine Alternative, daran hält er bis heute fest, habe es dazu nie gegeben.
Inzwischen scheint Lübbes umstrittene These durch empirische Befunde der Geschichtswissenschaft zumindest in Teilen bestätigt. Allerdings benennt Lübbe weder im wieder abgedruckten Aufsatz noch im anschließenden Teil seines Buches die Grenzen der 'Verstrickung' genauer, die nicht überschritten werden durften, um die Praxis des Beschweigens aufrecht zu erhalten. Diese Grenzen hat es, sieht man sich den Umgang mit den NS-Tätern in der frühen Bundesrepublik an, wohl auch nicht gegeben. Die Folge davon war, dass zahlreiche Täter unbestraft und viele Verbrechen ungesühnt blieben. Diese 'Kollateralschäden' des Beschweigens sind ein blinder Fleck in Lübbes Buch.
Fraglich ist auch die Alternativlosigkeit, die Lübbe der Entwicklung unterstellt. Hier kennt der Autor keine Grautöne, sondern verharrt in Schwarz-Weiß-Malerei. Daher gerät auch seine 'Wirkungsgeschichte' zu einer persönlichen Abrechnung mit seinen schärfsten Kritikern, bisweilen im fast triumphalen Gestus desjenigen, der sich nachträglich zum 'Sieger' erkoren wähnt. Besonders eingeschossen hat er sich dabei auf Carola Stern und Hans-Ulrich Wehler, die seinerzeit mit polemischer Kritik auch nicht zurückhielten. Ihre Kritik an der behaupteten Alternativlosigkeit verzerrt Lübbe allerdings zu einer Karikatur, als hätten sie durch ihre Haltung die Bundesrepublik schlechthin abgelehnt. Den Nachweis, dass die Integration der großen Masse der einstigen Volksgenossen zwangsläufig mit einem 'Schwamm drüber' und mit bereitwilligen großzügigen Karriereangeboten für einstige Massenmörder einhergehen musste, bleibt Lübbe schuldig. Er muss ihn schuldig bleiben, da er das Problem als solches nicht zu sehen scheint.
Das Buch bietet eine anregende, mal gar unterhaltende, mal zum Widerspruch herausfordernde Lektüre. Es ist im zweiten Teil nicht Wirkungsgeschichte und nüchterne Betrachtung, sondern eine Geschichte in eigener Sache ' polemisch, meinungsfreudig und einseitig.