Die dunkle Seite der Demokratie
Eine Theorie der ethnischen Säuberung

Mit seiner voluminösen Studie über 'ethnische Säuberungen' in der Geschichte hat sich Michael Mann, Professor für Soziologie an der University of California, viel vorgenommen. Er erhebt den Anspruch, eine allgemeingültige Erklärung für 'ethnische Säuberungen' zu bieten. Mann beschränkt sich aber nicht auf abstrakte Theoriebildungen, sondern arbeitet seine Thesen an wichtigen historischen Fallbeispielen ab.
Seine Grundthesen und die zentralen Begriffe und Kategorien stellt er der Überprüfung anhand der Fallbeispiele voran. 'Ethnische Säuberungen' sind für Mann eine im Wesentlichen moderne Erscheinung im Zeitalter der Demokratie. Wichtige Faktoren für Prozesse, die schließlich in den Massenmord münden, sieht er erstens in der Ablösung der Klassenzugehörigkeit durch die Ethnizität als wichtigstes Kriterium der sozialen Schichtung. Zweitens drohen 'ethnische Säuberungen', wenn zwei ethnische Gruppen jeweils Anspruch auf das Staatsterritorium erheben und Chancen zur Durchsetzung ihres Anspruchs sehen. Drittens radikalisierten sich diese Gruppen, wenn sich entweder eine Seite deutlich überlegen wähnte oder die andere von außen zum Kampf ermutigt wurde. Viertens kommt es nach Mann in der Regel erst in ausgesprochenen Krisen oder einem Krieg zur Eskalation der ethnisch motivierten Gewalt.
Schließlich fokussiert er seine Thesen auf die Täter. 'Ethnische Säuberungen' waren laut Mann selten ein von Anfang an verfolgtes Ziel der Akteure, sondern Ergebnis eines Prozesses, in dem zuvor andere Pläne gescheitert waren. Bei den Tätern macht er drei Ebenen aus: radikale Eliten, militante Gruppen und Milizen und schließlich eine treue Anhängerschaft aus der Mitte der Gesellschaft. Für die Durchführung 'ethnischer Säuberungen' brauchte es alle drei Täterebenen. Die Täter, so Manns achte und letzte Grundthese, sind ganz normale Menschen, die durch normale gesellschaftliche Strukturen dazu gebracht werden, 'ethnische Säuberungen' zu begehen.
Ausführlich widmet sich Mann schließlich den Motiven der Täter und macht ein Bündel von neun Motiven aus, etwa ideologisch motivierte, gewalttätige, karriereorientierte, materialistisch orientierte oder auch bürokratische Mörder. Zu Recht betont er, dass nur die Wenigsten ihr Treiben mit einer festen Mordabsicht begannen. Daher wendet er den Blick in den untersuchten Fallbeispielen immer wieder auf einzelne Karrieren, um Aufschluss über Veränderungen der Motivlage zu erlangen.
Der Bogen, den Mann in der anschließenden historischen Untersuchung seiner Thesen spannt, ist sehr weit: In einem historischen Abriss reicht er zunächst vom Assyrerreich, über die Vereinigten Staaten und Australien, das russische Zarenreich bis hin zur wilhelminischen Kolonialherrschaft in Afrika. Schließlich wendet er sich ausführlich seinen Fallbeispielen zu: dem Völkermord an den Armeniern, dem Holocaust, kommunistischen Massenmorden in der Sowjetunion, in China unter Mao und unter dem Pol Pot-Regime in Kambodscha. Die Beispiele Jugoslawien und Ruanda führen Mann bis an die Gegenwart heran. Den weitaus größten Raum, nahezu ein Viertel des Buches, nimmt ausgerechnet das Beispiel des Nationalsozialismus ein, auf das Manns Thesen ' wie er freimütig einräumt ' am wenigsten passen. Hier stützt er sich, anders als in den anderen Kapiteln, auf umfassende eigene Forschungen.
Mann hat ein vielschichtiges Buch geschrieben, dem man auf so knappen Raum kaum gerecht werden kann. Er bietet eine Reihe anregender Thesen für ein wichtiges Phänomen der Geschichte, Gegenwart und ' wie zu fürchten ist ' auch der Zukunft. Wo seine Thesen nicht wirklich greifen, scheut sich Mann auch nicht, dies einzuräumen und zu diskutieren. Und schließlich bietet er zum Teil hervorragende Fallstudien zu einzelnen Massenmorden.