Das Reservepolizeibattaillon 101 vor Gericht
NS-Täter in Selbst- und Fremddarstellungen

Keine deutsche Mordeinheit dürfte wohl so bekannt sein wie das Hamburger Reservepolizeibattaillon 101. Es stand im Mittelpunkt von Christopher Brownings bahnbrechender Studie über 'Ganz normale Männer', mit der er Anfang der neunziger Jahre der NS-Täter-Forschung entscheidende Impulse gegeben hat. Mitte der neunziger Jahre versetzte Daniel Goldhagen die Historikerzunft und Teile der Öffentlichkeit in Aufregung mit seiner These vom 'eliminatorischen Antisemitismus' der 'ganz normalen Deutschen' und stützte sich dabei in Teilen auch auf dieses Battaillon. Zuletzt war es vor wenigen Jahren Gegenstand von Romuald Karmakars Dokumentation 'Land der Vernichtung'.
All diese Studien stützten sich auf die umfangreichen Akten der Hamburger Staatsanwaltschaft, die ein langjähriges Ermittlungsverfahren gegen Angehörige des Battaillons geführt hatte, das schließlich in einen Gerichtsprozess mündete. Dieser spezifische Entstehungskontext der Quellen, vor allem der zahlreichen Vernehmungsprotokolle wurde von den Autoren allerdings nicht immer hinreichend berücksichtigt.
Jan Kiepe hat sich daher mit seiner Studie, die auf einer Hamburger Magisterarbeit basiert, zum Ziel gesetzt, das Ermittlungsverfahren selbst, seinen Verlauf und das Verhalten aller beteiligten Akteure zu untersuchen. Dieser Analyse vorangestellt ist eine knappe, präzise und anschauliche Darstellung der vergangenheitspolitischen Hintergründe sowie der allgemeinen Entwicklung der Ermittlungen und Rechtsprechung der Justiz. Abgerundet wird das Kapitel von einem Blick auf das Täter-Bild in der Öffentlichkeit, die NS-Täter fast ausschließlich als pathologische und perverse Gestalten sah und damit marginalisierte.
Anschließend schildert Kiepe minutiös, bisweilen spannend wie ein Krimi, wie die Ermittlungen gegen die einstigen Mörder in Polizeiuniform ihren Anfang und welchen Verlauf sie nahmen. Dabei konzentriert er sich dankenswerterweise nicht allein auf die Beschuldigten, sondern richtet sein Augenmerk auch auf die Staatsanwälte und die ermittelnden Polizisten. Erst wenn man ihre Handlungsspielräume und Probleme berücksichtigt, lassen sich 'Erfolg' oder 'Misserfolg' solcher Verfahren beurteilen. Zudem erfährt man hier viel über das gesellschaftliche Klima, in dem sie agierten. So standen die ermittelnden Kriminalpolizisten der eigens eingerichteten Sonderkommission beispielsweise in der Polizei weitgehend isoliert da, zum Teil angefeindet als Verräter und Nestbeschmutzer.
Den größten Teil, gut die Hälfte des Buches, machen zwei Kapitel aus, in denen Kiepe die Selbst- und Fremddarstellungen der einstigen Todesschützen analysiert. Hier zeigt sich, welche Fallstricke Ermittlungsakten als Quelle für Holocaust-Forscher und andere bereithalten. Indem Kiepe die Aussagen der Beschuldigten und Zeugen in den gesamten Kontext des Verfahrens einbettet und sie nicht isoliert betrachtet, kann er Variationen und Entwicklungen der Selbstdarstellung aufzeigen, die vom jeweiligen Verfahrensstand abhingen. Ein besonderer Gewinn ist, dass Kiepe dies nach einem allgemeineren Kapitel über alle Betroffenen im letzten Kapitel am Beispiel der beiden Hauptangeklagten im Detail durchdekliniert.
Kiepes Arbeit zeigt, wie lehrreich die eingehende Analyse einzelner Ermittlungsverfahren sein kann: Für die Erforschung der Grenzen und Möglichkeiten der deutschen Justiz, den NS-Verbrechen juristisch beizukommen; für ein tieferes Verständnis der bundesdeutschen Gesellschaft und ihres Verhältnisses zur NS-Hinterlassenschaft und schließlich für einen enormen Erkenntnisgewinn bezüglich der Selbstkonstruktion der Täter und ihre Interaktion mit den Fremdzuschreibungen von außen. Kiepe hat ein leuchtendes Beispiel gesetzt für andere Historiker nach ihm, auf die angesichts der Masse solcher Ermittlungsverfahren noch viel und vor allem lohnenswerte Arbeit wartet.