Goethes Faust als philosophischer Text

An Goethes 'Faust' schreibend heranzugehen, das setzt schon Mut voraus. Einmal scheint alles gesagt und dann, wie soll man an dieses monumentale Menschheitsdrama herankommen, zu dem Kommentare von gut 1000 Seiten existieren. Gernot Böhme hat im Goethejahr 1999 in Darmstadt eine Vorlesung gehalten, die auch auf Kassetten zu bekommen ist und die hier in Buchform vorliegt. Er hat überall die neuere Literatur eingebaut, bleibt immer leicht und unterhaltsam lesbar, nirgends wird er, selbst wenn er griechisch (mit griechischen Lettern) zitiert, universitär abgehoben. Wunderbar weise ist Böhmes Kritik an Schlaffer: 'Nach Heinz Schlaffers Auffassung will Goethe den Übergang des zerfallenden Feudalismus zum bürgerlichen Kapitalismus darstellen. Dieser These möchte ich mich nicht direkt anschließen, doch sie gewissermaßen erweiternd, aufnehmen. Goethe lehrt die Vanitas aller gesellschaftlichen Verhältnisse ' ihre Vergeblichkeit, vor allem aber ihre Künstlichkeit. Für Goethe sind nicht erst die kapitalistischen Verhältnisse abstrakt, wie Schlaffer meint, sondern schon die feudalen.' Schlaffer hat, von heute gesehen, wo der Rauch sich verzogen hat, viel Stroh verbrannt, orthodoxaltmarxistisches; er hat rhetorische Arabesken geliefert, zeitgeistbestimmt. Aber so war das immer.
So wünschte man sich da und dort einen härteren Zugriff, etwa vermißt man entmythologisierende Thesen. 'Im Grunde ist das ganze, Goethisch-alchemistische Weltbild dasjenige, wofür der [Erd]Geist steht. Es ist das, was Faust zunächst aus dem Zeichen des Makrokosmos gelesen hat und das dann mit dem Erdgeist lebendig wurde.' Das bleibt zu nah am Text, in dessen Horizont, zu nah in dessen Bildlichkeit; was fehlt ist der Horizont der Sache und das ist Newton, das ist die gesamte moderne Naturwissenschaft, Physik, Chemie, dafür steht der Erdgeist. Indes, Bücher sind umso besser, je mehr sie zum Denken, zum Widerspruch, zur Ergänzung einladen.
Ansonsten aber holt Böhme die gegenwartsrelevanten Dimensionen aus dem Text, er bemerkt dessen Aktualität. 'Auf Schritt und Tritt lassen sich Bezüge zu den gegenwärtigen Diskursen herstellen: zur Debatte um künstliche Natur, um Bioethik, um Virtualität und die imaginäre Gesellschaft, um Gender, Poetik, Künstliche Intelligenz und Technology Assessment. Der alternde Goethe lebte in einer Zeit, in der all dies seinen Anfang nahm.'