Erinnerung - Identität - Narration
Gattungstypologie und Funktionen kanadischer "Fictions of Memory"

Seit den 1980er Jahren entwickelt sich der theoretische Schneeball der Gedächtnis- und Erinnerungstheorien zur akademischen Lawine, die früher oder später im Tal der Stagnation zur Schmelze kommen muß. Dann wird sich zeigen, was im neuen Grün versickert und was als feste Größe in der geisteswissenschaftlichen Landschaft bleibt. Birgit Neumann trägt mit ihrer Dissertation zur Lawine einen Teil bei, der in seinen Dimensionen ' 500 Seiten in Schriftgröße 9 ' nicht zu unterschätzen ist.
Die vorliegende Arbeit widmet sich der Zusammenführung sozialpsychologischer und kulturwissenschaftlicher Ansätze, um anhand zeitgenössischer kanadischer Romane zu belegen, welche Bedeutung das Erzählen von Geschichten für Erinnerung und daraus resultierend für Identität hat. Der Untersuchung liegt die These zugrunde, daß Literatur in einem dialogischen Verhältnis zu außerliterarischen Diskursen steht: 'Sie nimmt auf das Repertoire kulturell verfügbarer Erinnerungsinhalte und Wissensordnungen Bezug, bringt Inhalte und Funktionsweisen von individuellem und kollektivem Gedächtnis mit unterschiedlichen ästhetischen Verfahren zur Darstellung und kann damit die Erinnerungskultur mitgestalten. Literarische Werke formen individuelle und kollektive Vergangenheitsversionen und Identitätskonzepte aktiv mit' (S. 5).
Erinnerung faßt die Autorin gängigen sozialpsychologischen Theorien entsprechend als gegenwartsbestimmt und sinnstiftend konstruktiv bezüglich der vergangenheitsbezogenen Gedächtnisbestände auf (vgl. S. 23). Dadurch gestaltet sich Identität als permanent situationsabhängiges und vorläufiges Produkt disparater Selbst- und Welterfahrung (vgl. S. 20). Narrationen spielen als Objektivationen dieser Prozesse insofern eine bedeutende Rolle, als es in ihnen zur 'Synthesis des Heterogenen' (Paul Ricoeur) kommt, d.h. die Auswahl des Erinnerten wird in Geschichten zusammengebracht. Eben dieses 'Emplotment' (Hayden White) ist schon eine Interpretation des Dargestellten durch die Relationierung seiner Elemente, wobei 'unweigerlich kulturell verfügbare und sozial akzeptierte Erzählschemata oder Plots' (S. 49) zum Tragen kommen.
Diese Überlegungen mit kulturtheoretischen Entwürfen von Maurice Halbwachs, Pierre Nora, Jan und Aleida Assmann verknüpfend, sieht Neumann in der 'Wirksamkeit von kulturell vermittelten Schemata auf individueller Ebene ' die zentrale Schnittstelle zwischen individuellem und überindividuellem, kulturellem Gedächtnis begründet' (S. 96). Letzteres konkretisiert sich individuell hinsichtlich seiner Wissensordnungen und Symbolsysteme im semantischen Gedächtnis, wohingegen gemeinsame Erfahrungen im episodischen Gedächtnis gespeichert werden. Narrationen als 'ein anthropologisch ubiquitäres Muster der Formgebung' (S. 101) wirken identitätsstiftend, indem Erinnerungen an vergangene Ereignisse aus dem episodischen Gedächtnis abgerufen werden ' individuell wie kollektiv.
Das reziproke Verhältnis von Literatur und ihrem kulturellen Kontext wird anhand von Paul Ricoeurs Konzept der dreistufigen Mimesis nachgezeichnet, um darauf aufbauend anhand eines Katalogs von Analysekriterien die fictions of memory gattungstypologisch zu erfassen. Neumann unterscheidet hierbei zwischen autobiographischem Gedächtnisroman, autobiographischem Erinnerungsroman, kommunalem Gedächtnisroman und soziobiographischem Erinnerungsroman, wobei sie zu jedem Typus drei Beispiele des zeitgenössischen kanadischen Romans untersucht und Michael Ondaatjes 'Running in the Family' aufgrund seiner Hybridität als metamnemonischen Roman außerhalb der Typologie ansiedelt.
Wenngleich Neumanns Studie sich aufgrund ihres repetitiven wie asyndetischen Schreibstils und der damit einhergehenden Dimension die Lektüre recht anstrengend gestaltet, so ist es doch ihr wesentliches Verdienst anregende wie anwendbare theoretischen Überlegungen zur interdisziplinären Gedächtnisforschung zu liefern. Ihr Modell zur Verbindung zwischen kollektivem und individuellem Gedächtnis stellt einen wertvollen Beitrag dazu dar, in dem darüber hinaus die Verortung und Funktion von Literatur konzeptualisiert wird.