In Europa
Eine Reise durch das 20. Jahrhundert

Ein Jahr lang, beginnend am Morgen des 4. Januar 1999, ist der niederländische Publizist Geert Mak auf den Spuren der Geschichte des 20. Jahrhunderts durch Europa gereist. Auf gut 900 Seiten beschreibt er seine Reise durch Raum und Zeit und keine einzige Seite davon möchte man als Leser missen. Die Suche nach den Spuren der Zeit und danach, was 'Europa' eigentlich bedeutet, ist grandios.
Mak geht es um die 'individuellen historischen Erfahrungen der Europäer' (S. 13) und so kommen immer wieder einzelne Menschen zu Wort, wird ihr Schicksal eingebettet in die Makrogeschichte. Der Autor beschreibt dies selbst: 'In Danzig traf ich einen älteren Taxifahrer, der in seinem Leben viermal eine neue Sprache hatte lernen müssen; ich schloss Bekanntschaft mit einem deutschen Ehepaar, das ausgebombt und anschließend lange Zeit durch Osteuropa gehetzt war; ich besuchte eine baskische Familie, die Heiligabend in einen heftigen Streit über den Spanischen Bürgerkrieg geraten war und danach nie wieder ein Wort darüber verlor; gleichzeitig stieß ich bei den Niederländern, Dänen und Schweden auf eine friedliche Sattheit: An ihnen waren die Stürme meistens vorübergegangen. Man setze Russen, Deutsche, Briten, Tschechen und Spanier an einen Tisch und lasse sie die Geschichten ihrer Familien erzählen. Lauter verschiedene Welten. Und doch sind sie alle Europa' (S. 13f.).
In seiner großen Erzählung verknüpft Mak stets die Geschichte und die Gegenwart des jeweiligen Ortes. Er hält sich dabei nicht an die strikte Chronologie, die das Inhaltsverzeichnis suggeriert, sondern erzählt auch über den Zeitraum, in dem er sich gerade befindet, hinausgehend von dem jeweiligen Ort. Mak zitiert ausführlich aus Tagebüchern, Erinnerungen und zeitgenössischen Romanen. Er verbindet so die Historie der Menschen und des Ortes mit der Literatur zu einer überaus lebendigen Darstellung. Seine Schilderungen, etwa der großen Schlachten der beiden Weltkriege, sind überaus eindringlich. Immer wieder zeigt er auf, was hinter den Zahlen und Fakten steht, so, um nur eines der zahlreichen Beispiele zu nennen, in seiner Beschreibung des Nordirland-Konfliktes, wo er von zahlreichen Einzelschicksalen erzählt: 'verlorenen Leben' (S. 756-763).
Es ist kaum möglich, aus der Fülle der Inhalte dieses Buches etwas herauszugreifen, so soll wenigstens der Schlussappell dieses Europäers zitiert werden: 'Die Schwäche Europas, seine Vielgestaltigkeit, ist zugleich seine große Stärke. Die europäische Einigung als Friedensprozess ist ein eklatanter Erfolg. Und auch Europa als Wirtschaftsgemeinschaft ist schon ein gutes Stück vorangekommen. Aber letztlich ist das europäische Projekt zum Scheitern verurteilt, wenn nicht rasch ein gemeinsamer kultureller, politischer und vor allem demokratischer Raum entsteht. Denn über eines muss man sich im Klaren sein: Europa hat nur diese eine Chance.' (S. 905).
Geert Mak hat ein ganzes Jahrhundert und einen ganzen Kontinent virtuos im Griff. Ein ungeheuer gelehrter Autor schreibt hier ein ungeheuer kluges Buch ' hoffentlich findet es viele Leser: Sie werden es mit Gewinn und Vergnügen lesen.