Buch des Lebens.
Erinnerungen und Gedanken Materialien zur Geschichte meiner Zeit. Band 1-3

Simon Dubnow (1860-1941) ist einer der bedeutendsten jüdischen Geschichtsschreiber. Seine Memoiren liegen nun endlich in deutscher Übersetzung vor. Die Erinnerungen des Verfassers der zehnbändigen 'Weltgeschichte des jüdischen Volkes' sind ein Dokument, das weit über eine bloße private Schilderung hinausgeht (ja, Privates sogar häufig ausspart), wie bereits am Untertitel 'Materialien zur Geschichte meiner Zeit' deutlich wird. Der Memoirenschreiber Dubnow verstand diese Erinnerungen vor allem als eine Äußerung des Historikers Dubnow, als einen Kommentar zur politischen und geistigen Geschichte seiner Zeit. Die Herausgeberin Verena Dohrn umreißt in ihrer gelungenen und informativen Einleitung zum ersten Band das Spektrum der Aufzeichnungen: 'Die Erinnerungen umspannen die Moderne des rußländischen Judentums von den Anfängen bis zu den fundamentalen Umwälzungen, den Zerstreuungen und Zerstörungen durch Revolution, Stalinismus und Nationalsozialismus. Mstislawl, Petersburg, Odessa, Wilna, Berlin, Riga heißen die großen Lebensstationen. Sie berichten vom Bildungshunger, von der Sehnsucht nach der Großstadt, der Suche nach Arbeit, von politischem und wissenschaftlichem Engagement, Restriktionen, Krieg, Revolution, von Bürgerkrieg und Exil. Die Erinnerungen schildern die Rebellion des jungen Dubnow gegen die osteuropäisch-jüdische Tradition und den Auszug in die große Welt der rußländischen Metropolen ebenso wie später die Kehrtwende zur 'historischen Heimat' in der rußländischen Provinz und das Aufkommen der Idee vom osteuropäischen Domizil' (Bd. 1, S. 23f.).
Der Text selbst hat verschiedene Ebenen: Dubnow leitet ihn ein und schreibt ein Nachwort, die Erinnerungen selbst, außerdem fügt er ' ganz Historiker, der den Umgang mit Dokumenten gewohnt ist ' Auszüge aus seinen Tagebüchern und Briefen ein. Heraus kommt ein faszinierendes Erinnerungswerk, das das Erinnern selbst und die Bedeutung der Erinnerung für das Individuum (er nennt Erinnerung einen 'Prozeß der 'Integration der Seele''/Bd. 1, S. 49) immer wieder thematisiert. Spätere erinnerungstheoretische Überlegungen werden hier gleichsam vorweggenommen, so wenn Dubnow schreibt: 'Dunkel erinnere ich mich des Auftritts eines der damals berühmtesten maggidim [Prediger], über den allerorts gesprochen wurde, so daß sich zu meinen unmittelbaren Eindrücken durchaus auch die Erzählungen dritter gesellt haben können' (Bd. 1, S. 83). Es ist hochinteressant, wie hier der Historiker und Intellektuelle seine Erinnerungen schreibt, dabei seine eigenen Tagebücher und auch seine Erinnerungen als Quelle nutzt, sich dessen bewußt ist und es immer wieder thematisiert. Ebenso wie er die verschiedenen Zeitebenen stets benennt: 'In Gedanken lebte ich im Berlin vom Ende des 18. Jahrhunderts, in der Realität schritt ich durch das Berlin von Wilhelm II. Anfang des 20. Jahrhunderts, und heute schreibe ich diese Zeilen im Berlin Hitlers' (Bd. 2, S. 130). Das Einfügen von zeitgenössischen Quellen wird Dubnow im Laufe der Jahre immer wichtiger, unbedingt sollen seine Erinnerungen authentisch sein: 'Ich hielt es für notwendig, von diesen schicksalhaften Jahren so Zeugnis abzulegen, wie ich es unter dem ersten Eindruck der Ereignisse notiert habe' (Bd. 2, S. 13).
Sein großes Ziel war ihm spätestens 1892 klar, als er ' wie er sich selbst zitiert ' in sein Tagebuch schrieb: 'Mein Lebensziel ist nun klarer geworden: die Verbreitung historischer Kenntnisse über das Judentum und eine gesonderte Aufarbeitung der Geschichte der russischen Juden. Ich bin gewissermaßen zum Missionar der Geschichte geworden' (Bd. 1, S. 290). Schwere materielle Sorgen und das Leben in einer einem jüdischen Forscher nicht gerade immer wohlgesonnenen Umgebung kennzeichneten weite Teile der Schaffenszeit Dubnows. Doch mit nahezu unglaublich anmutender Disziplin schrieb er. Und schrieb und schrieb. Vom Schaffen des 'Missionars der Geschichte' gibt die den Erinnerungen beigefügte Autobibliographie eindrucksvoll Eindruck. Wie Dubnow selbst in seinem 1935 in Riga verfassten Vorwort zum zweiten Band seiner Erinnerung erklärte, war für ihn das Schreiben und Aufbewahren seiner Aufzeichnungen auch 'unter Gefahr für meine Freiheit und sogar mein Leben' ein 'historischer Imperativ' (Bd. 2, S. 13).
Im August 1933 verließ Dubnow 'das Land, in dem ich meine wissenschaftliche Arbeit zu Ende gebracht und gehofft hatte, den noch verbleibenden Rest meines Lebens verbringen zu können' (Bd. 3, S. 162). Danach fügt er wiederum Auszüge aus seinem Tagebuch des Jahres 1933 ein, beginnend am 30. Januar 1933. Am 6. Februar schreibt er darüber, dass er den ersten Band des 'Buch des Lebens' bis zur Abreise aus Odessa 1903 gerade beendet habe; und weiter: 'Vor fast elf Jahren verließ ich das Land der roten Diktatur in Richtung eines freien Deutschland. Jetzt steht Deutschland eine schwarze Dikatur bevor' (S. 163). Diese Diktatur sollte Jahre später den großen jüdischen Geschichtsschreiber das Leben kosten: Im Getto von Riga wurde er im Alter von 81 Jahren ermordet.
Dubnow hat seine Erinnerungen in russischer Sprache geschrieben, obwohl dies nicht seine Muttersprache war: 'Bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr konnte ich fast gar kein Russisch' (Bd. 1, S. 101). Die Erinnerungen des Autodidakten und Intellektuellen sind in den Jahren 1934-1940 zuerst in Riga erschienen. Fünf weitere Editionen folgten, nun liegt die erste deutsche Edition (übersetzt von Vera Bischitzky und Barbara Conrad) vor. Der Text wurde ungekürzt abgedruckt, ergänzt um Dubnows Autobibliographie, umfangreiche Einführungen zu jedem Band, Sach-, Wort- und Personenerläuterungen sowie einen umfangreichen Anmerkungsapparat. Dankenswerterweise ist  am Ende des dritten Bandes auch Victor Erlichs 'Leben mit Großvater' abgedruckt, das den Menschen Simon Dubnow und seinen Lebens- und Arbeitsstil aus der Sicht seines Enkels wunderbar beschreibt.
Die Erinnerungen eines herausragenden Historikers liegen hier endlich in einer mustergültigen Edition in deutscher Sprache vor. Das Simon-Dubnow-Institut hat seinem Namensgeber damit ein wunderbares Denkmal gesetzt.