Feldpostbriefe jüdischer Soldaten 1914 - 1918

Das Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der sich im vergangenen Jahr zum 90. Mal jährte, lenkt die Aufmerksamkeit auch auf die Textsorte der 'Feldpostbriefe', deren öffentlich bekannter Bestand durch Neufunde ' auch aus der Zeit des Ersten Weltkrieges ' noch immer erweitert werden kann (so zuletzt als Folge eines Aufrufs des 'Gießener Anzeigers' vom 28. Juli 2004).
Die Rezeptionsgeschichte der Textsorte erlebt schon nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 einen ersten Höhepunkt. Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges wächst die Zahl der veröffentlichten Feldpostbriefe noch einmal an. In Zeitungen, bald aber auch in eigens publizierten Sammlungen, werden zahlreiche Briefe abgedruckt. Einen zweiten Höhepunkt markiert die Sammlung des Freiburger Germanisten Philipp Witkop, die erstmals im Jahre 1916 unter dem Titel 'Kriegsbriefe deutscher Studenten' erscheint. Witkops Absicht war es, die 'nationale Erhebung' Deutschlands und den Anteil der Universitäten zu dokumentieren. Sie sollte die patriotische Gesinnung der Soldaten zeigen und diejenigen, die 'dazu gezwungen waren zu Hause zu sitzen', am emphatisch beschworenen 'Kriegserlebnis' teilhaben lassen (so schon Max Scheler, Vorwort, in: Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg, Leipzig 1914). Eine dritte, stark erweiterte Auflage, die eine Auswahl aus Witkops ca. 20.000 Briefe umfassendem Brief-Corpus enthält, erscheint 1928 und wird schnell zu einem Bestseller. 1942 lag die Auflagenhöhe bei 200.000 (vgl. Manfred Hettling, Arrangierte Authentizität. Philipp Witkop: Kriegsbriefe gefallener Studenten (1916), in: Thomas F. Schneider / Hans Wagener, Von Richthofen zu Remarque. Deutschsprachige Prosa zum 1. Weltkrieg, Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 53, Amsterdam: Rodopi 2003, S. 51-69, hier S. 51f).
Weitere Editionen, die Feldpostbriefe unter unterschiedlichen Gesichtspunkten zusammenstellen, folgen. Die vorläufig jüngste Ausgabe, die Sabine Hank und Hermann Simon für die Stiftung 'Neue Synagoge Berlin ' Centrum Judaicum' und dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Potsdam, herausgegeben haben, enthält weitere 754 Feldpostbriefe und Karten, die an den Direktor des Reichenheimschen Waisenhauses in Berlin, Dr. Sigmund Feist, gerichtet sind. Feist, einer der brillantesten Köpfe unter den Germanisten und Indogermanisten des beginnenden 20. Jahrhunderts hatte, wegen seines jüdischen Glaubens, aber auch, weil seine fachlichen Ansichten zu weit von der sich ausbreitenden Deutschtümelei der neuen 'Deutschkunde' entfernt lagen, keine Aussicht auf eine Professur an einer deutschen Universität und nahm daher 1906 die von der Berliner jüdischen Gemeinde ausgeschriebene Stelle eines 'Direktors des Reichenheim'schen Waisenhauses' an. Kurze Hinweise zur Familie Feist gibt im Anschluss an die Einleitung Karl Kilian (S. 32'36), Hinweise zur Geschichte des Waisenhauses bietet Karl-Heinz Noack. Die Einleitung der beiden Herausgeber enthält schließlich eine Skizze der Briefsammlung und ihrer Autoren.
Das Hauptinteresse der Herausgeber richtet sich auf die Rekonstruktion der Biographien der Briefschreiber und ihr Verhältnis zu Sigmund Feist. Dabei ist es ihnen gelegentlich gelungen, Daten zusammenzutragen, die selbst den Angehörigen der Schreiber unbekannt waren. Auffällig ist auch die relativ hohe Zahl von Briefschreibern, die im späteren Leben promoviert worden sind, was ein Licht auf die Qualität der schulischen Ausbildung im Waisenhaus wirft. Auch der spätere Ordinarius für 'Deutsche Philologie' in Kiel, Hermann Teuchert, war unter Feists Zöglingen und ist in der Sammlung mit einigen Briefen vertreten. Darüber hinaus betonen viele Schreiber, daß sie durch die strenge Ordnung im Waisenhaus gut auf die militärische Disziplin vorbereitet waren. Dazu trat eine starke patriotische Haltung, die in vielen Briefen zum Ausdruck kommt. So unterzeichnete der später in Auschwitz ermordete ehemalige Zögling Siegbert Jungmann noch am 26. Oktober 1917 seinen Brief 'mit treudeutschen Grüßen'. Doch insgesamt zeigt auch diese Briefsammlung, daß der Patriotismus mit fortschreitender Kriegsdauer schwindet. So unterscheiden sich die Feldpostbriefe jüdischer Soldaten von den Briefen anderer deutscher Soldaten wohl nur dadurch, daß von der Teilnahme an jüdischen Festen berichtet wird und vom wachsenden Antisemitismus im deutschen Heer. Ob allerdings der Ausdruck patriotischer Gefühle sogar größer war, als bei den nicht-jüdischen Soldaten, bleibt noch zu klären. Über die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Patriotismus informieren bis heute wohl am eindringlichsten die Tagebücher des Dresdener Romanisten und Rabbinersohnes Victor Klemperer.
Für Germanisten ist die Briefsammlung also in dreifacher Hinsicht interessant. Sie erweitert die Zahl der gedruckten Vertreter der Textsorte erheblich, zudem in einer editorisch befriedigenden, weil annähernd diplomatischen Form. Sie rückt den Aspekt der 'Feldpostbriefe jüdischer Soldaten' in den Vordergrund und eröffnet damit eine Grundlage für Überlegungen, ob und in wie weit sich Feldpostbriefe jüdischer Autoren von den übrigen Kriegsbriefen der Zeit unterscheiden (zu vergleichen wäre hier auch der 1935 vom 'Reichsbund jüdischer Frontkämpfer' herausgegebene Band 'Kriegsbriefe gefallener deutscher Juden'; zitiert nach Manfred Hettling: Arrangierte Authentizität, S. 52) Schließlich ' und dies macht in germanistischer Hinsicht vielleicht den größten Reiz der Sammlung aus ' beleuchtet sie die Tätigkeit eines bedeutenden Sprachwissenschaftlers, der im Fach und für lange Zeit auch in der Fachgeschichte nur Außenseiter geblieben ist.
Die nicht-germanistischen Herausgeber interessieren sich für diese Facette ihrer Arbeit allerdings nur am Rande, auf die weiterführende germanistische Forschungsliteratur wird nicht verwiesen. Sie sei daher am Ende dieser Besprechung ergänzend aufgeführt. Aber auch im Internationalen Germanistenlexikon fehlt, wohl wegen seines frühen Redaktionsschlusses, ein Hinweis auf die Briefsammlung (vgl. Judith Schwerdt, Sigmund Feist, in: Internationales Germanistenlexikon 1800 ' 1950, hg. und eingeleitet von Christoph König, 3 Bde., Berlin / New York: de Gruyter 2003, S. 483f). Die Geschichte der Sprachwissenschaft im Allgemeinen und die Geschichte der Feldpostbriefe im Besonderen sind aber exemplarisch geeignete Felder für die Möglichkeiten interdisziplinärer Zusammenarbeit.

Weiterführende Literatur:

Jörg RIECKE, 'Sollte irgend eine Aktion gegen diese Dilettanten in Aussicht genommen werden ...'. Zu einem Brief Max Vasmers an Otto Behaghel. In: Raum, Zeit, Medium ' Sprache und ihre Determinanten. Festschrift für Hans Ramge zum 60. Geburtstag, hg. v. Gerd RICHTER ' Jörg RIECKE und Britt-Marie SCHUSTER, Darmstadt 2000, S. 929-948.

Ruth RÖMER, Sigmund Feist, Deutscher ' Germanist ' Jude. In: Muttersprache 91 (1981), S. 249-308.

Ruth RÖMER, Sigmund Feist und die Gesellschaft für deutsche Philologie in Berlin. In: Muttersprache 103 (1993), S.  28-40.