Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter

Der gewichtige, aber extrem teure Sammelband, der aus den Vorträgen des 30. Kölner Mediaevistentags des Thomas-Instituts hervorging, beleuchtet das Thema 'Räumlichkeit im Mittelalter' im interdisziplinären Zugriff erstaunlich umfassend und vorbildlich systematisch; Raum figuriert dabei als Kategorie in Semantik, Naturphilosophie, Ontologie, Theologie und Geistesgeschichte. Die auf Vorwort und Einleitung folgenden 45 Beiträge verteilen sich auf zwölf relativ gleichgewichtige Themenblöcke; sie untersuchen den Raum im Verhältnis zur Materie, als Gegenstand experimenteller und spekulativer Physik, als reales und imaginäres physikalisches Wirkungsfeld, in der spekulativen Entfaltung des Begriffs, als theologische Vorstellung, als Topik und Semantik des Ortes, als Metapher, als geographische, rechtliche und historische Kategorie, als Heils- und Kultraum, als musikalische Größe sowie als eine sich an der Schwelle zur Neuzeit wandelnde Wahrnehmung von Bildräumen. Dieses außergewöhnlich breite Spektrum bietet, ausgehend von A. Zimmermanns Akzentuierung der Problemkonstanz naturphilosophischer Grundfragen im Gegensatz zur modernen Überbetonung von Umbrüchen und Paradigmenwechseln, zahlreiche die Fachgrenzen überschreitende Denkanstöße.
Kenntnisse über den physischen Raum vermitteln beispielsweise S. Donati mit der Analyse ungedruckter Physikkommentare aus der Zeit von 1250 bis 1270, D. Thiel am Beispiel der Platon-Rezeption durch Nikolaus von Kues, A. Speer anhand Robert Grossetestes spekulativem Entwurfs einer Lichtkosmogonie, J. Hackett mittels der Wahrnehmung von Objekten im Raum bei Roger Bacon und seinen Zeitgenossen, G. Molland mit der Positionierung von Himmel und Hölle in der mittelalterlichen Physik und J. Sarnowsky mit den Antworten Johannes Buridans und seines Pariser Kreises auf die aristotelische Frage nach dem Seienden außerhalb der endlichen Welt. Das Problem der räumlichen Bewegung spiegelt sich zum Beispiel in der Edition einer anonymen Quaestio zur Unbeweglichkeit des Ortes, in Richard Kilvingtons Quaestio zur Bewegung im Vakuum oder in Aristoteles' Physik (Buch IV). Weitere Studien analysieren den Raumbegriff bei Anselm von Canterbury, Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Duns Scotus, Maimonides und Eckhart ebenso wie die späte Transformation des imaginären Raumes der Scholastik zum absoluten Raum Isaac Newtons, die metaphorische Verwandlung des Raumes in der Nacht oder die Konstituierung eines Raums des Sehens im Augenblick der Koinzidenz von Sehen und Gesehenwerden.
Besonders anschaulich wirken die Erörterungen geographischer Raumvorstellungen: M. Smyth beschreibt die frühchristlichen irischen Auffassungen von räumlicher Organisation und die verwendeten visuellen Hilfsmittel; B. Stark schildert die Reise des Heiligen Bredan als eine neue Geographie des Jenseits (leider fehlen hier im Exemplar der Rezensentin mehrere Druckseiten); M. Bláhová verdeutlicht die unterschiedlichen geographischen Kenntnisse böhmischer Chronisten des Mittelalters, und A.-D. von den Brincken charakterisiert den Umgang mit den terrae incognitae von der Antike bis zum 15. Jahrhundert, als die Ptolemäus-Renaissance mithalf, klimatische Hindernisse abzubauen und die Weite des Meeres zu überwinden, so daß die als unzugänglich, aber bewohnbar gedachten Regionen ferner Gegenwelten endlich zu Zielen von Entdeckungsreisen werden konnten.
Ähnlich spannend lesen sich die Forschungen zur rechtlichen, historischen und heilsgeschichtlichen Raumerfassung: V. Epp untersucht akribisch frühmittelalterliche Rechtstexte, um schließlich sogar 'von einer ursprünglichen Territorialität des Rechts zu sprechen' (S. 590); I. Hlavácek diskutiert Mobilität und Reiseverhalten von Adel, Klerikern, Stadt- und Landbevölkerung im spätmittelalterlichen Böhmen, um das geographische Wissen dieser Gruppen zu ermitteln; und G.-R. Tewes versucht, mit Hilfe von kurialen Stellenbesetzungen, finanziellen Abgaben und gerichtlichen Appellationen an die Kurie bestimmte 'Zuwendungsräume' spätmittelalterlicher Päpste aufzuspüren. Über die Raum-Zeit-Vorstellungen mittelalterlicher Kommentatoren des biblischen Schöpfungsberichtes und deren künstlerische Visualisierung informiert J. Zahlten, während B. Reudenbach die Darstellungsformen des himmlischen Heilsraumes beleuchtet, die nicht nur auf ikonographischen Motiven, sondern auch auf einem raffinierten Bild- und Ordnungssystem beruhten. Das Verhältnis zwischen Bildraum und Kultraum thematisieren zudem H.P. Neuheuser mit der Kirchweihbeschreibung des Abtes Suger von Saint-Denis und K. Faupel-Drevs mit dem Rationale divinorum officiorum des Durandus von Mende. Gravierende Veränderungen in der optischen, mentalen und geistigen Raumwahrnehmung meint C.E. Haver in den ereignisdichten Jahren zwischen 1420 und 1440 erkennen zu können (falsch ist natürlich, daß die Erde erst zu diesem Zeitpunkt als Kugel begriffen wurde, S. 762); N. Bock und W. Jung beleuchten den Stadtraum als Bühne architektonischer Inszenierung vom 15. bis 17. Jahrhundert. All diese vielfältigen Einzelstudien, deren Erträge hier nur grob angerissen werden können, tragen wesentlich zur übergreifenden Behandlung des Themas und zur Reichhaltigkeit der stattlichen Publikation bei.