Die Antiquiertheit der Kritik
Zum 100. Geburtstag von Günther Anders

Am 12. Juli 2002 jährte sich der Geburtstag Günther Anders zum hundertsten Mal. Der als scharfer Kritiker von moderner Technik und Lebenswelt bekannt gewordene Denker steht merkwürdig quer zu den etablierten geistigen Strömungen des 20. Jahrhunderts - und dennoch muß er als faszinierender Essayist und Schriftsteller zu den verantwortungsbewußtesten Intellektuellen unserer Zeit gerechnet werden. Seine These von der 'Antiquiertheit des Menschen' wurde einst zum Schlagwort und ist heute nahezu vergessen.
Der als Günther Siegmund Stern geborene Philosoph kommt 1902 in Breslau als Sohn des Psychologenehepaars Clara und William Stern zur Welt. Anders, der aus nicht eindeutig zu ermittelnden Gründen seinen Geburtsnamen ablegt, studiert zunächst in Hamburg Philosophie, später in Freiburg bei Martin Heidegger und Edmund Husserl. 1925 lernt er in den Marburger Seminaren Heideggers Hannah Arendt kennen, mit der er von 1929 bis 1936 verheiratet ist. 1926 wird Anders Assistent bei Max Scheler. Ein Habilitationsversuch bei Paul Tillich scheitert 1929. Anders - der bereits 1928 unter dem Spott seiner Freunde Hitlers Mein Kampf liest und früh um die Gefahr des Nationalsozialismus weiß - emigriert 1933 nach Paris. Dort steht er mit zahlreichen Emigranten in Beziehung, vor allem mit seinem Verwandten Walter Benjamin. 1936 flieht Anders weiter in die USA, wo er zeitweise in Fabriken oder in den Requisitenkammern Hollywoods arbeitet. Zu Beginn der 40er Jahre diskutiert Anders in Kalifornien mit den Mitgliedern des Instituts für Sozialforschung, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. In dieser Zeit kommt er auch kurzzeitig im Haus von Herbert Marcuse unter. Nach dem Krieg kehrt Anders 1950 nach Europa, d.h. nach Wien, zurück. Seit den frühen 50er Jahren setzt er sich bis zu seinem Tod intensiv mit der atomaren Bedrohung, dem Holocaust und dem Vietnamkrieg auseinander. Auschwitz und Hiroshima werden für ihn Hauptmotive seines Aufklärungsarbeit. Für seine aktive und engagierte Publikationstätigkeit erhält er zahlreiche Kulturpreise. 1992 stirbt Anders im Alter von 90 Jahren in Wien.
Für Anders, der mit einem auch am Kunstgenuß geschulten Empfinden die Einflüsse technologischer Errungenschaften auf das Verhalten und die Mentalität der Menschen untersucht, gilt es als bewiesen, 'daß nicht die Menschen das Subjekt der Geschichte sind, daß an ihre Stelle vielmehr längst eine Technik getreten ist, die den Individuen so eigensinnige wie diktatorisch die Gesetze des ‚Fortschritts‘ aufzwingt.' Aus diesem Grund kann der Mensch nur noch als 'mitgeschichtlich', also 'antiquiert' bezeichnet werden. Der einst so auf seine wissenschaftlichen und technischen Leistungen stolze homo faber hat, nach Anders, seine Zukunft verloren und muß, auch aufgrund der allgegenwärtigen Bedrohung durch den Atomkrieg, in das Stadium der Endzeit eintreten. 1979 formuliert Anders drei Kernthesen seiner philosophischen Kultur- und Gesellschaftskritik noch einmal: 'Die drei Hauptthesen: daß wir der Perfektion unserer Produkte nicht mehr gewachsen sind; daß wir mehr herstellen, als wir uns vorstellen und verantworten können; und daß wir glauben, das, was wir können, auch zu dürfen: diese drei Grundthesen sind angesichts der im letzten Vierteljahrhundert offenbar gewordenen Umweltgefahren leider aktueller und brisanter als damals.' Der 'Technikpsychologie' des - wie er sich selbst nennt - 'Gelegenheitsphilosophen' sind bei aller Originalität doch unverkennbar neben anderen Einflüsse auch die der Heideggerschen Technikkritik sowie der marxistischen Entfremdungsproblematik anzumerken.
Wer heute die Texte Anders' aufmerksam liest, wird sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren können, daß bei aller zugestandener Zeitlosigkeit der Themen die Kritik wie aus einer anderen Welt klingt. Vergangen sind die Tage, als man im Radio, im Fernsehen und in massenhaft verbreiteten Printprodukten eine Gefahr für Geist und Seele entdeckte. Der technische Fortschritt selbst, so scheint es, hat der humanistischen Kritik eine Lehre erteilt. Oder wer versteht z. B. noch Adornos drollige Mahnrede in den Minima Moralia, die sich gegen eine Barbarei von mechanischen Türschließern wendet? Zu fragen bleibt allerdings noch, was Anders zur letzten Entwicklung der industriellen Revolution gesagt hätte: der 'Demokratisierung' von Technik in der westlichen Welt, ihrer Verbreitung in Form modernster Elektronik in allen Gesellschafts- und Lebensbereichen zur Unterhaltung und 'Information'. Bei allem Schaden, den Ergebnisse von Technik und Wissenschaft heute anrichten, wird doch Technik selber nicht mehr zum Gegenstand der Kritik erhoben oder als Bedrohung empfunden. Technik scheint dem gegenwärtigen Bewußtsein mit all ihren Nachteilen unendlich vertraut, quasi als Teil der natürlichen Welt. Souverän hat der heutige Zeitgenosse mit einer Mischung aus Ignoranz und Spieltrieb die Unmittelbarkeit von Technik wahrgelogen.
Möglicherweise sind es aber gerade die als veraltet verschrieenen Theorien, die einen Ausweg aus der verfahrenen Situation weisen: So wußte Herbert Marcuse von der geistigen Lähmung durch einen die schroffen sozialen Gegensätze ausgleichenden Kapitalismus etwas zu berichten: 'Die kleinen Freiheiten verhindern die große Befreiung.' Wer Handy, Laptop und DVD sein Eigentum nennen darf, mag kurzzeitig der Aufgabe enthoben sein, Sinn und Zweck der futuristischen Gerätschaften anzuzweifeln, weil er - wie auch immer - am Gesamtapparat Gesellschaft beteiligt sich fühlen darf. - Noch nicht abzusehen bleibt, wie sich das Projekt der Andersschen Technikkritik auf eine Zukunft mit Neuerungen wie Cyberspace fortentwickeln wird. Eine resignative Einsicht, die Anders schon selbst gehabt hat, bleibt: Es kann auch ein Fluch bedeuten, eine Kritik zu früh formuliert zu haben!

Günther Anders: Übertreibungen in Richtung Wahrheit. Gedanken und Aphorismen. Hg. v. Ludger Lütkehaus. München: Beck 2002, 190 S., 9,90 €, ISBN 3-406-47612-0.

Günther Anders: Philosophische Stenogramme. München: Beck 2002, 150 S., 9,90 €, ISBN 3-406-47639-2.

Konrad Paul Liessmann: Günther Anders. Philosophieren im Zeitalter der technologischen Revolutionen. München: Beck 2002, 207 S., 19,90 €, ISBN 3-406-48720-3.